Niccolòs Aufstieg
geringschätzigen Worte von dem Lehrling stammten? Es beunruhigte sie, weil sie sich dadurch an den Ereignissen mitverantwortlich fühlte.
»Madame Katelina«, sagte der Vicomte, »laßt uns nicht schmoren. Messer Orlando hat gerade eine tolle Geschichte von einem Lehrling erzählt, der mit einer Schere angegriffen wurde, und das von keinem anderen als unserem abwesenden Freund Simon. Ist das wahr?« Der Ton war scherzhaft. Der Blick nicht.
»Messer Arnolfini hat recht«, erwiderte Katelina. »Ich kenne nur Gerüchte. Lord Simon faßte eine Abneigung gegen einen Lehrling, und ihre Wege kreuzten sich. Es kam zu einem Kampf, den der Lehrling verlor. Ich bin überzeugt, die Stichverletzung beruhte auf einem Unglücksfall.«
Der Vicomte lächelte. »Eine Fehde zwischen einem Edelmann und einem Handwerkslehrling! In Frankreich gäbe es dergleichen nicht. Ist so ein Bursche frech, wird er geschlagen. Man kämpft nicht mit ihm.«
»Oh, Claes ist auch geschlagen worden«, entgegnete Katelina. »Erst hat er Lord Simon aus dem Bett eines Dienstmädchens verdrängt und dann den Tod seines Hundes verursacht. Für beides erhielt er die Prügelstrafe. Und wurde eingesperrt.«
»Was wohl ganz natürlich ist«, meinte der Vicomte. »Und danach wollte der Lehrling Monsieur Simon also ans Leben? Messer Orlando?«
Der Venezianer im schwarzen Damast bemühte sich angestrengt zu verstehen. »Der Kampf?« fragte er. »Der Handwerksbursche hat doch den schottischen Signore mit seiner Schere verletzt. So habe ich jedenfalls gehört. Der schottische Signore hat sich danach, statt ihn zu töten, zu einem Kampf mit dem Bauernspieß herbeigelassen, einer Waffe des einfachen Volks. Ein Fehler, meiner Ansicht nach. Ein Edelmann läßt sich nicht mit Dienstboten ein. Der Bursche hat bekommen, was er verdient.«
»Den Tod?« fragte der Vicomte.
»Beinahe«, sagte Katelina. »Weil Euer edler Schotte mit der besagten Schere auf ihn einstach, nachdem er ihn bereits halb zu Tode geprügelt hatte.«
Der Vicomte lächelte wieder und sagte zu Vasquez, Arnolfini und Florens van Borselen gewandt: »Die Sitten und Gebräuche von Burgund! Ist das nun Gerücht oder Wahrheit? Monsieur Simon, der uns das sagen könnte, ist leider gegangen. Aber vielleicht übt er sich nur in Bescheidenheit. So ein robustes Kind des Volkes mit den eigenen Waffen zu schlagen, ist doch allerhand.«
»Mit einer Schere darauf einzustechen, ist mehr als allerhand«, bemerkte Katelina kalt.
»Katelina!« herrschte ihr Vater sie an. »Du weißt, daß das nicht stimmt. Die Schere war zwischen ihnen eingeklemmt. Und der Lehrling hat sie zuerst gebraucht.«
»Ach?« sagte Katelina. »Dem Gerücht zufolge, das ich gehört habe, war es ein Unglücksfall.«
Mit kaltem Blick betrachtete der Vicomte de Ribérac sie. »Das klingt ja, Madame, als wärt Ihr unserem schottischen Edelmann nicht gerade freundlich gesonnen.«
Sie hielt dem Blick stand. »Da habt Ihr recht«, erwiderte sie. »Ich denke - ich weiß, daß er ein zügelloser und rachsüchtiger Lebemann ist.«
»Das habe ich schon vermutet. Jammerschade!« Der massige Franzose seufzte tief, »Wo Ihr doch bis in Eure hübschen Fingerspitzen mein Ideal einer Schwiegertochter verkörpert.«
Irgendwo schmetterten Trompeten. Das Stimmengewirr in dem prächtigen Saal begann sich zu legen. Alle traten zurück, um dem Schatzmeister, dem Dauphin und dem Bruder des schottischen Königs Platz zu machen. Alle stellten sich auf, um sich paarweise zur gedeckten Tafel zu begeben. Nur in der kleinen Gruppe war es totenstill, und keiner rührte sich.
Katelina van Borselen und Jordan de Ribérac starrten einander an, als wären sie allein im Saal.
»Wirklich jammerschade«, wiederholte der Franzose ohne besondere Emphase. »Denn - hätte ich es Euch vielleicht sagen sollen? Verzeiht, daß mir das nicht in den Sinn kam - der zügellose und rachsüchtige Lebemann … wirklich? Wie traurig! - ist mein Sohn.«
Erst später wurde Katelina bewußt, daß ihr Vater sie mit einer förmlichen Entschuldigung aus der Gruppe weg zu ihrem Platz in dem Zug geführt hatte, der sich zum Bankettsaal bewegte. Im Lauf des opulenten Mahls, nachdem er sich, wie es der Anstand gebot, eine Weile mit seinen Tischnachbarn unterhalten hatte, sagte er zu ihr: »Du weißt, daß du dich mit deinen ausfallenden Bemerkungen über einen Abwesenden in aller Öffentlichkeit ins Unrecht gesetzt hast. Weit mehr ins Unrecht gesetzt hat sich allerdings der Franzose, der dieses
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