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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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vorsätzliche Missachtung dieses Urteils
ansehen und – hören Sie, Mr Bock? – mich nicht scheuen, es mit allen mir zur
Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen und Sie, falls erforderlich, auch in
Haft nehmen, und zwar so lange, wie es mir gemäß den gesetzlichen Bestimmungen
und nach richterlichem Ermessen möglich ist.«
    Er hob eine Hand mit gespreizten Fingern und schüttelte langsam den
Kopf.
    »Nein, Miss Barrow, bei allem Respekt – sagen Sie jetzt nichts, wenn
ich bitten darf. Ich habe noch eine letzte Bemerkung für das Protokoll, und
danach können wir alle uns wieder dem täglichen Leben widmen. Protokollführer,
notieren Sie, dass ich mich jetzt an Mr Bock wende. Hören Sie, Mr Bock? Hören
Sie mir genau zu?«
    »Ja, Euer Ehren«, sagte Bock mit gekünstelt kleinlauter Stimme, in
der allerdings ein kratzender Unterton war, als schöbe sich ein Stein über
einen anderen. Für einen kleinen, beinahe kleinwüchsigen Mann verströmte er
eine erstaunliche Menge stumpfer Wut – was er gewöhnlich nur tat, wenn er mit
einem schwächeren Menschen allein war. Heute aber offenbarte er diese
Eigenschaft in der Öffentlichkeit, vor Gericht, und Kate Kavanaugh entging das
nicht.
    »Gut. Sie gefallen mir nicht, Mr Bock. Überhaupt nicht. Wenn ich Sie
aus Niceville, aus diesem Bundesstaat ausweisen dürfte, würde ich es tun. In
Ihnen gibt es tiefe Abgründe, Mr Bock. Sie sind ganz und gar nicht der, als der
Sie sich der Welt präsentieren. In meinem langen Leben habe ich viele Menschen
Ihres Schlages gesehen, und ich nehme an, dass ich noch mehr davon zu sehen
bekommen werde, bevor ich vor meinen Schöpfer trete. Aber Sie sollen wissen, Mr
Bock, dass ich Sie gesehen habe und dass ich Sie mir gemerkt habe und dass ich Sie, solange ich dieses Richteramt innehabe und Sie in meinem
Gerichtsbezirk leben, im Auge behalten werde. Verstehen Sie, was ich damit
sagen will, Mr Bock?«
    Es entstand eine lange, angespannte Stille, während deren Bock sich
mühte, einen passenden Gesichtsausdruck zu finden. Kate Kavanaugh, die diesen
miesen kleinen Scheißer für das, was er Anna Marie und ihrer Mutter in den
vergangenen acht Monaten angetan hatte und hatte antun wollen, zutiefst
verabscheute, kam es so vor, als sähe sie einem minderen Dämon dabei zu, wie er
diverse frisch erbeutete Menschengesichter anprobierte.
    Dasjenige, für das er sich schließlich entschied, war nur halb
menschlich, und als sie es sah, überlief sie ein eiskalter Schauder. Bock
achtete darauf, dass nur sie es zu sehen bekam, als er ihr einen vernichtenden
Seitenblick zuwarf – für Richter Monroe setzte er ein menschlicheres auf.
    »Ja, das verstehe ich, Euer Ehren«, sagte er zerknirscht und mit
einem nicht ganz überzeugenden Räuspern. Er blinzelte hektisch, als wollte er
sich ein paar Tränen abringen. »Und ich möchte sagen, dass ich mich sehr
bemühen werde, in der Zeit, die mir bleibt, alles zu tun, was ich nur kann,
damit Sie Ihr Urteil über mich ändern. Sie. Meine Frau. Meine Tochter. Sie
alle.«
    Richter Monroe musterte ihn eine Weile mit zusammengekniffenen
Lippen, die Fingerspitzen aneinandergelegt.
    »Werden Sie das wirklich, Mr Bock?«
    Bock nickte. Seine Arme hingen schlaff herunter. Vor den blitzenden
Brillengläsern des Richters schlug er die Augen nieder.
    »Ja, Sir, das werde ich. Ich verspreche es Ihnen allen.«
    Richter Monroe sagte lange nichts.
    »Ich glaube Ihnen, Mr Bock. Ich glaube, dass Sie zum ersten Mal in
diesem Gerichtssaal die lautere Wahrheit sagen. Zu Protokoll genommen. Die
Verhandlung ist geschlossen.«

Delia Cottons Nachmittag ist schwer zu erklären
    Bis
zum Abend ihres Verschwindens lebte Delia Cotton allein, und zwar gern. Sie war
eine elegante Dame mit guter Figur, aufrechter Haltung und sanften braunen
Augen. Einst hatte sie Herzen gebrochen, und auch jetzt war sie noch immer eine
seltene Schönheit mit blassem herbstlichem Glanz und vollem silbergrauem Haar,
das zurückgekämmt war und von einer diamantenbesetzten Cartier-Spange gehalten
wurde, die ihr ein längst verstorbener Liebhaber in Venedig geschenkt
hatte.
    Hinter ihr lag ein erfülltes, kompliziertes Leben voller
persönlicher und geschäftlicher Erfolge, und sie kannte viele charmante,
brillante und äußerst unterhaltsame Menschen, die sie nun, mit vierundachtzig,
zu Tode langweilten.
    Außer denen, die tot waren und bei denen man sich infolgedessen
darauf verlassen konnte, dass sie einer alten Frau nicht auf die Nerven gingen.
    Inzwischen

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