Niceville
hatte sie, abgesehen von den Damen des Lesekreises, nur
noch zwei regelmäßige Besucher: Alice Bayer, die fünfmal die Woche von The
Glades herübergefahren kam und putzte, die die Einkäufe erledigte, die Hausbar
aufstockte und sich um Mildred Pierce, Delias Maine-Coon-Katze, kümmerte, und
Gray Haggard – so hieß er tatsächlich, der arme Kerl –, der gelegentlich kam,
um Arbeiten im Garten und im Haus zu erledigen und sie aus sicherer Entfernung
mit taktvoller Unaufdringlichkeit anzuhimmeln.
Delia schätzte ihre Privatsphäre, sie genoss ihre Erinnerungen –
viele süß, manche bitter, aber allesamt so alt, dass sich sowohl Glück als auch
Schmerz längst daraus verflüchtigt hatten –, und sie liebte ihr weitläufiges
altes viktorianisches Haus, das in den wohltuenden Schatten der Bäume von The
Chase stand.
An diesem Abend saß sie kurz vor Sonnenuntergang, als ein paar
letzte Strahlen durch die Wipfel der Eichen fielen und dem sanft gewellten
Rasen einen goldenen Glanz verliehen, in dem mit Stuck verzierten achteckigen
Raum mit den vielen Fenstern, den ihr Mann immer »die Hutschachtel« genannt
hatte.
Aus der Dunkelheit der großen Eingangshalle läutete die Türglocke.
Sie hörte es nicht gleich, denn in den vergangenen Minuten hatte sie
mit zunehmender Niedergeschlagenheit den aktuellen Bericht über das
entsetzliche Verbrechen im Norden des Bundesstaates gesehen, dem einige
Polizisten zum Opfer gefallen waren. Abgeschlachtet in ihren Wagen. Vier Tote. Außerdem
zwei Mitarbeiter des Fernsehsenders, die mit ihrem Hubschrauber abgestürzt
waren.
Die Polizistenmorde hatten eine andere Story über einen tödlichen
Lastwagenunfall auf der Interstate verdrängt.
Während sie das sah, dachte sie an … Ja, an wen?
Hannah Arendt?
Dorothy Parker?
An die Frau jedenfalls, die gesagt hatte: »Man sollte nichts über
Ereignisse erfahren, auf die man ohnehin keinen Einfluss hat.«
Schließlich hatte sie traurig den Fernseher ausgeschaltet. Nun hörte
sie Ofra Harnoy, die eine Reihe von Vivaldi-Sonaten spielte: kühl, präzise und
durch und durch deprimierend – Musik zur Untermalung, wenn man sich die
Pulsadern durchschnitt, und doch irgendwie tröstlich.
Die Türglocke hatte einen dunklen, vibrierenden Bronzeklang, der
beinahe von einem Cello hätte stammen können, und so dauerte es einen
Augenblick, bis der Ton zu ihr durchdrang.
Sie seufzte, sah auf die Uhr über dem Kamin und stellte ihr
Scotchglas sorgfältig ab. Dann nahm sie die Fernbedienung, schaltete den
Fernseher ein und drückte auf KAMERA 1.
Eine hübsche junge Frau um die zwanzig mit kastanienbraunen Locken
und einer guten Figur, nicht so wie diese mageren jungen Dinger, die man jetzt
überall sah. Sie trug ein altmodisches leichtes hellgrünes Baumwollkleid und
glänzende rote Slipper wie Dorothy. Sie stand im Licht der Lampen auf der
Veranda, den Blick starr auf die Tür gerichtet, und war sich der Kamera
offenbar gar nicht bewusst.
Ihr blasses, herzförmiges Gesicht war ernst, und auch in ihren
hellbraunen Augen war kein Lächeln. Sie hielt Delias Katze Mildred Pierce in
den Armen. Das riesige Tier war fast zu groß für sie und zappelte, das dichte,
gestreifte Fell war feucht und verfilzt.
Blut?
Delia drückte auf einen Knopf neben ihrem Sessel.
Beim Klang ihrer Stimme aus dem Lautsprecher neben der Tür zuckte
die Frau zusammen.
»Kind, was machen Sie mit meiner Katze?«
Die Frau fuhr herum, und Mildred Pierce wand sich, doch sie ließ das
Tier nicht los. Delia kannte ihre Katze und kam zu dem Schluss, dass diese
junge Frau stärker war, als sie aussah.
»Miss Cotton? Ich bin Clara, von gegenüber. Ich glaube, Ihre Katze
hat sich geprügelt.«
Delia wusste von den Leuten auf der anderen Seite der Straße
lediglich, dass sie erst kürzlich aus einem anderen Bundesstaat hierhergezogen
waren, ein junges Ehepaar, das das alte Freitag-Haus an der Woodcrest
übernommen hatte, nachdem der letzte dieser hochnäsigen Bande von steifen
Preußen vor zwei Monaten endlich das Zeitliche gesegnet hatte. Delia kannte
diese neuen Leute nicht und wusste auch nicht, dass sie eine Tochter hatten,
aber da jedes Haus in The Chase auf beinahe zwei Morgen Parkland stand, weit
entfernt von der Straße, und man die Anwesen obendrein oft mit einer Mauer
umgeben hatte, war es nicht ungewöhnlich, dass langjährige Nachbarn wenig bis nichts
voneinander wussten.
Delia sah auf den Bildschirm. Sie schien Blut auf den Armen und dem
hellgrünen Kleid zu
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