Nicholas Dane (German Edition)
verlegte er ein Stück weiter weg von Sonnscheins Räumen, verbrachte aber trotzdem wenig Zeit dort. Wenn er sich bei Sonnschein in der Küche aufhielt, saß er ganz nah am Wohnzimmer, wo es einen Fluchtweg zum Dachboden gab – für den Fall, dass Jones unerwartet auftauchte.
Und er verbrachte viel Zeit bei Jenny, mehr als zuvor, selbst wenn er sich dort langweilte.
Jenny wusste nicht, warum Nick plötzlich so häufig zu ihr kam, aber es musste etwas ziemlich Schlimmes passiert sein, wenn sie bedachte, wie viel Risikobereitschaft Nick in letzter Zeit entwickelt hatte. Sie betrachtete seine Anwesenheit als Chance, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen – weg von der Straße, zurück in ein richtiges Zuhause, weg vom Stehlen, zurück zum Lernen – oder wohin auch immer. Die Frage war nur, was könnte das sein? Schule kam für Nick nicht in Frage. Alle seine Freunde bereiteten sich auf die Abschlussprüfungen vor, und das würde er kaum aufholen können. Was konnte ein fünfzehnjähriger Junge unter der Woche tun außer zur Schule gehen?
Jeden Tag merkte Jenny, dass Nick eigentlich von ihr wegwollte, sich aber nicht traute. Was immer seine Probleme sein mochten, irgendwann würden die verschwinden, vermutete sie. Und damit auch er – es sei denn, sie fand etwas, das ihn halten könnte.
Da das Jugendamt nicht mehr in Frage kam, wandte sie sich an den einzigen Menschen, von dem sie Hilfe erwarten konnte, und das war Michael Moberley.
Sie führte ein langes Telefongespräch mit ihm. Michael Moberley wollte natürlich das Jugendamt einschalten, für ihn war es schwierig nachzuvollziehen, warum das ausgeschlossen war. Nick hatte Jenny im Verlauf der vergangenen Woche allerhand erzählt, den sexuellen Missbrauch hatte er zwar nicht erwähnt, dafür aber die Gewalt. Diese Informationen gab sie nun weiter.
Michael war entsetzt. »Wir müssen uns beschweren! Das ist ja ungeheuerlich!«, rief er aus.
»Das wird Nick wohl kaum helfen, oder?«, sagte Jenny.
»Aber warum denn nicht? Wenn wir richtig Alarm machen, dann werden die dafür sorgen, dass er diesmal in eine ordentliche Einrichtung kommt.«
Doch das wollte Jenny nicht. Sie gab sich Mühe, es zu erklären, obwohl sie es selbst nicht verstand. Nick fürchtete jede Autorität, er war zu misstrauisch, er war schon zu alt. Er war fünfzehn, wie wollte man da verhindern, dass er weglief? Ihn einsperren? Das würde nichts bringen.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich kenne ihn. Wenn er auch nur den kleinsten Verdacht schöpft, dass wir so was vorhaben, dann ist er weg. Außerdem«, fügte sie hinzu, »habe ich ihm mein Wort gegeben.«
»Ja, natürlich. Wir werden nichts gegen seinen Willen tun«, sagte Michael enttäuscht. Was für Möglichkeiten blieben denn da?
Sie sprachen eine Weile miteinander, fanden aber keine Lösung. Am Ende einigten sie sich darauf, dass Michael vorbeikommen würde, um selbst mit Nick zu reden. Und sie würde dafür sorgen, dass Nick da wäre.
Am Bahnhof stieg Michael Moberley in ein Taxi und ließ sich bis zu Jennys Straße fahren. Er bezahlte den Fahrer und blickte sich um. Ein Backsteinhäuschen reihte sich ans andere. Eine arme Gegend. Ihm war sofort klar, dass sein guter Mantel und seine teuren Schuhe hier überhaupt nicht herpassten. Für das, was er auf dem Leib trug, müsste ein Bewohner dieses Viertels mehrere Wochenlöhne auf den Tisch legen.
»Tja, tut mir leid, aber es ist einfach nicht genug für euch alle da«, murmelte er vor sich hin. Die Frage war, reichte es für Nicholas Dane? Es gibt so viele Dinge, die man nicht kaufen kann. Die Vergangenheit zum Beispiel. Wir sind alle ein Produkt unserer Vergangenheit, und von dieser Vergangenheit lässt sich nicht eine einzige Sekunde verändern, nicht für alles Geld dieser Welt.
Er klopfte an die Tür. Ein neugieriges Mädchen machte ihm auf. Sie starrte ihn unverwandt an, während sie ihn durch die Küche in den hinteren Teil des Hauses führte, wo Jenny und sein Phantom-Neffe ihn erwarteten.
Es war das erste Mal, dass Michael Nick persönlich treffen sollte, und das machte ihn nervös. Nach dem ersten Blick auf den Jungen hatte er keinen Zweifel mehr, dass der Junge zu seiner Familie gehörte. Nick war Michaels Vater wie aus dem Gesicht geschnitten – ob das nun gut oder schlecht war, wusste Michael ganz und gar nicht zu sagen.
Er fand es schon erstaunlich, wie beharrlich er an dem Jungen drangeblieben war. Hauptsächlich aus Neugier. Er hatte so viele
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