Nicholas Dane (German Edition)
unterschiedliche Einschätzungen gehört. Nick war alles – vom gewalttätigen Verbrecher bis zum beklagenswerten Opfer, je nachdem, mit wem Michael sprach, und er war gespannt, welchen Eindruck der Junge nun auf ihn machen würde.
Nick sah eigentlich nicht aus wie ein Verbrecher, aber was hatte er denn erwartet? Dass der Junge Jenny mit dem Nudelholz verprügelte und die Kinder folterte? Bei diesem ersten Treffen spürte Michael vor allem, dass er ihm nicht trauen konnte. Nicks Augen glitten im Raum umher wie zwei Spiegeleier, die auf einem fettigen Teller herumrutschen. Ein Opfer, schloss Michael. Dem Jungen fiel es schwer, anderen zu vertrauen, genau wie Jenny gesagt hatte. Doch Michael wusste gut genug, dass der Weg vom Opfer zum Verbrecher nicht weit war.
Michael hatte überlegt, mit Jenny und Nick essen zu gehen, aber sie hatte lieber kochen wollen, aus welchem Grund auch immer. Es war Sonntag, und sie hatte ein Huhn gebraten. Das Gemüse war zu weich gekocht, fand Michael, und das Huhn stammte aus Käfighaltung und schmeckte eigentlich nach gar nichts, aber trotzdem hatte er Freude daran, mit einer Familie am Tisch zu sitzen und das Gemüse in riesigen Mengen Fertigsoße zu ertränken.
Während des Essens beobachtete er Nick genau, jedenfalls so gut es ging, ohne dass es auffiel. Der Junge hatte gute Manieren und war höflich. Er wusste sich zu benehmen, was eine gute Voraussetzung war. Beim Essen wurde Nick etwas entspannter, er unterhielt sich mit den beiden Kindern, die ihn offensichtlich mochten – auch ein Pluspunkt. Ein paarmal guckte Michael hoch und bemerkte, wie Nick den Blick von ihm abwandte, und ihm wurde klar, dass Nick ihn genauso sorgfältig und heimlich beobachtete wie er ihn. Als sich ihre Blicke das nächste Mal trafen, zwinkerte er Nick zu. Nick zog ein Gesicht, aber einen Moment später machte Nick ihn nach und zwinkerte auch, worauf Michael laut lachen musste. Und zu seinem großen Vergnügen stimmte Nick in sein Lachen ein.
»Treffer«, sagte Michael und hatte das Gefühl, dass es vorwärtsging.
Nach dem Essen schickte Jenny die beiden Kleinen aus dem Zimmer und sie kamen zum eigentlich Anlass des Treffens. Michael wollte erst mal über Nicks Mutter sprechen – die ja immerhin seine Nichte war, auch wenn er erst nach ihrem Tod von ihrer Existenz erfahren hatte.
Nick beantwortete alle Fragen über Muriel sehr knapp, was Michael in seiner Meinung bestärkte, dass man dem Jungen nicht trauen konnte. Es war schließlich das erste Gespräch, das die beiden miteinander hatten, da hätte Nick sich doch wenigstens ein bisschen Mühe geben können. Dann antwortete Nick überhaupt nicht mehr, blickte nur mit finsterer Miene zur Seite an die Wand. Michael ärgerte das, und er war schon kurz davor aufzugeben, als er merkte, dass Jenny die Hand des Jungen berührte, Michael anguckte und den Kopf schüttelte. Dann verstand er. Nick weinte und gab sich äußerste Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.
Michael ging das Herz auf. Und warum? Weil der Junge seine Mutter geliebt hat, du dummer, alter Trottel , dachte er. Aber er war trotzdem gerührt und entschied sich, ja, er würde den Jungen unterstützen, wenn es eine Möglichkeit gab.
»Nun, Nick, was soll werden?«, fragte er, sobald Nick den Kopf geschüttelt, sich verstohlen die Augen ausgewischt hatte und wieder aufguckte. »Jenny hat mir erzählt, du willst auf keinen Fall was mit dem Jugendamt zu tun haben.«
Nick rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her. »Nie wieder«, murmelte er.
»Nun, versteh mich nicht falsch, ich verspreche, dass nichts ohne dein Einverständnis getan wird – niemand darf dich zu etwas zwingen, das du nicht willst. Aber darf ich fragen, warum?«
Der Junge wich seinem Blick aus. »Hat mir da nich gefallen«, sagte er.
»Ist das Grund genug? Ich meine, es gibt im Leben doch eine Menge Dinge, die uns nicht gefallen«, sagte Michael. Jenny schloss die Augen und hielt die Luft an. Nick warf ihm einen hasserfüllten Blick zu.
»Die im Heim sind Arschlöcher«, war alles, was er herausbrachte.
»Gut«, sagte Michael vorsichtig. Er hatte den Eindruck, der Junge würde gleich durch die Tür stürmen. Jenny hatte Recht. »Gut, dann fällt die Möglichkeit flach. Was dann? Internat?«
»O Nick, sag Ja!«, hauchte Jenny. Das war die Lösung.
Nick legte den Kopf zur Seite. »Weiß nich, wie’s da is«, sagte er schließlich.
Michael verzog das Gesicht. Ein Internat war teuer, das war schon mal klar. Er
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