Nicholas Dane (German Edition)
Andrews schrie schon um Hilfe, da wurde Nick plötzlich von einer unwiderstehlichen Kraft am Hosenbund gepackt und durch die Luft geschleudert. Er krachte mit dem Kopf gegen die Wand, war aber in Sekundenschnelle wieder auf den Beinen und stürzte sich wie besessen auf den neuen Angreifer – und landete direkt in den wütenden Armen von Mr Toms.
Nick war wie von Sinnen, er wollte sogar auf Mr Toms los. Der aber streckte nur die Hand aus, packte Nick am Schopf, hielt ihn so lange, bis er zu toben aufhörte, dann zog er Nicks Kopf hoch, so dass der Junge aufrecht zu stehen kam. Und jetzt boxte ihn Mr Toms mit aller Kraft in den Bauch.
Es war wie der Tritt eines Pferdes. Nick war vierzehn, zäh und drahtig, aber Toms war ein ausgewachsener Mann und noch dazu stark. Als Nick die Luft wegblieb, hörte er Olivers Worte vom Tag zuvor: »Die schlagen dich wie einen Mann.« Nick hatte gedacht, das wäre nur so eine Übertreibung, aber es stimmte tatsächlich. Kein Arrest, nicht mal der Stock. Ein gewaltiger Schlag in den Bauch. Als wäre er ein Mann.
Nick knickte zusammen wie Schilfrohr. Der Schlag hatte ihn direkt in den Magen getroffen, vollkommen unerwartet. Nicks ganzer Körper war in Mitleidenschaft gezogen, seine Lungen arbeiteten nicht mehr, er wälzte sich verzweifelt um Luft ringend auf dem Boden herum. Der Schmerz war unglaublich, aber viel schlimmer war die furchtbare Panik, die ihn ergriff, weil er nicht atmen konnte. Schließlich stand Toms über ihm und schrie etwas, aber Nick konnte nichts verstehen. Seine Ohren dröhnten.
Toms bückte sich und zerrte den Jungen am Hemd hoch. »Atmen, du Idiot, atmen!«, schrie er und ließ ihn los. Nick fiel wieder zu Boden, wand sich und strampelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, bekam aber noch immer kein bisschen Luft.
Langsam wurde Toms nervös. Bloß kein Krankenhaus. Aber obwohl Nick schwer angeschlagen war, hatte er keine inneren Verletzungen und konnte schließlich wieder atmen. Etwa ein oder zwei Minuten später lag er zusammengekrümmt auf den Knien, fast in derselben Haltung, in der seine Mutter gestorben war, hielt sich den Bauch und schaukelte hin und her.
Toms war wütend – sowohl über den Schrecken, den er sich selbst eingejagt hatte, als auch über den Verstoß gegen die Ordnung. Die neuen Jungen brauchten manchmal den einen oder anderen Knuff, bis sie sich einfügten, aber selten war so ein Rabauke dabei, der sogar einen seiner Aufsichtsschüler fertigmachte.
Toms stieß Nick mit dem Fuß zur Seite. »Ich werde dich im Auge behalten, und das wird dir überhaupt nicht gefallen, du hässliches Stück Scheiße!«, bellte er. Er blickte Andrews an. »Waschlappen!«, schnaubte er. »Lässt dich von einem Kind aufs Kreuz legen! Wichser!!«
Er ging raus, und sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, nahm sich Andrews Nick vor und machte da weiter, wo Toms aufgehört hatte. Er stand über ihm und trat ihn mit voller Wucht mehrmals gegen den Kopf und in die Nieren.
»Wenn ich wegen dir noch mal was abkriege, bring ich dich um«, zischte er. »Und wenn du noch mal zurückhaust, dann sorg ich dafür, dass er dich umbringt.« Er reckte sein Kinn Richtung Tür, durch die Toms gerade verschwunden war. Er stellte seinen Fuß auf Nicks Gesicht und drückte fester zu. Dann beugte er sich über Nick. »Jetzt wasch dich. In fünfzehn Minuten gibt’s Frühstück. Wenn du nicht rechtzeitig da bist, kriegst du von Toms noch mal dasselbe und ich auch. Und wenn ich noch mal was abkriege, bist du tot. Kapiert?«
Nick nickte und schluchzte. Nie in seinem Leben hatte er sich so erniedrigt gefühlt. Er konnte kaum gehen, sein Magen war ein einziger Schmerzklumpen, sein Gesicht war von Andrews’ Tritten geschwollen. Er rappelte sich auf, taumelte in den Waschraum und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Irgendwie schaffte er es, rechtzeitig bei den anderen auf dem Treppenabsatz zu stehen und auf den Pfiff zu warten, um dann in Zweierreihen die Treppe hinunter in den Saal zum Frühstück zu gehen.
Es war das Jahr 1984. Zu der Zeit glaubte niemand mehr, der auch nur etwas Verstand hatte, dass es irgendwie gut wäre, Kinder zu schlagen, doch in Meadow Hill wurde unkontrolliert Gewalt ausgeübt. Es gab andere Heime, in denen es einigermaßen in Ordnung war. Viele Menschen waren bereit, viele Stunden bei geringem Lohn für Kinder zu arbeiten. Aber nirgends fanden irgendwelche Kontrollen statt, niemand musste Rechenschaft ablegen. Wenn es schlecht lief wie in Meadow
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