Nicholas Dane (German Edition)
die Kniekehlen zu ziehen oder in den Magen zu rammen. Nick sehnte sich nur noch danach, die nächste Stunde ohne einen Faustschlag, einen Tritt, einen Stockhieb zu überstehen. Lediglich während des Unterrichts wurde er in Ruhe gelassen oder wenn einer mit dem Stock verprügelt worden war und die anderen sich zusammenrotteten, um die Striemen zu zählen.
Der Unterricht war ein Witz. Ein Lehrer zum Beispiel stellte einen Kassettenrekorder auf, ließ grässliche Countrymusik laufen, legte die Füße auf den Tisch, nahm sich ein Buch vor und überließ die Klasse sich selbst. Er stand nur auf, wenn jemand zu laut wurde. Den führte er dann auf den Flur und verprügelte ihn. Zugegebenermaßen waren nicht alle so. In manchen Stunden konnte man sogar etwas lernen, aber auf recht niedrigem Niveau. Als Muriel starb, hatte Nick kurz vor dem mittleren Schulabschluss gestanden. Hier nahm niemand an irgendwelchen Prüfungen teil. Es wurde vorausgesetzt, dass sowieso niemand bestehen würde. Die einzigen Stunden, die wirklich was brachten, waren Holz- und Metallarbeiten. Da man davon ausging, dass diese Jungen später allenfalls ein Handwerk ausüben würden, war der Unterricht in jenen Stunden tatsächlich brauchbar.
Nick kannte im ganzen Heim nur einen Menschen etwas näher, und das war Oliver. Aber der war in einer anderen Klasse und in einem anderen Schlafraum, so dass er ihn nicht oft sah. Bei der besonderen Aufmerksamkeit, die Nick genoss, hätte es ihn auch nicht verwundert, wenn Oliver sich gar nicht mehr mit ihm abgegeben hätte. Aber trotz allem suchte der Junge auf dem Hof seine Nähe und unterhielt sich mit ihm oder kam nach der Schule auf Nicks Seite des Saals. Wenn es eine Prügelei gab, war er dagegen nie zu sehen – das konnte Nick ihm allerdings nicht verübeln, denn Oliver war wirklich nur eine halbe Portion. Mit seinem blonden Wuschelkopf und seinen fahrigen, hüpfenden Bewegungen ähnelte er mehr dem Schirmchen einer Pusteblume als einem Jungen.
Oliver war nicht besonders beliebt, aber irgendwie kam er immer davon. Er wusste einfach, wie man Problemen, Arbeit oder Sportübungen aus dem Weg ging. Manchmal verhöhnten ihn die anderen Jungen, aber im Großen und Ganzen ließen sie ihn in Ruhe. Sogar Toms schien ihn zu übersehen. Und solange Oliver dabei war, passierte Nick selbst auch nichts, wie er feststellte.
Oliver hatte immer Schokolade, Zeitschriften und Süßigkeiten, aber merkwürdigerweise nahm ihm nie jemand etwas weg. Einmal, etwa fünf Tage nach Nicks Ankunft, zog Oliver ein Päckchen mit Karten aus der Tasche, auf denen nackte Frauen in mitunter recht eindeutigen Posen abgebildet waren. Nick staunte.
»Wo hast du denn das her?«, rief er.
Oliver lächelte und zuckte die Achseln. »Ach, ich hab einfach Glück«, sagte er.
»Aber echt, Mann«, sagte Nick. »Hast du. Bist echt ein Glücksbringer.«
»Wirklich?«, fragte Oliver und blickte schüchtern unter seinem Wuschelkopf hervor.
»Wenn du da bist, gibt’s nie ’ne Schlägerei. Normal legt sich immer einer mit mir an, egal, was ich tue. Siehst du? Du bringst mir Glück.«
»Das Glück ist eben auf meiner Seite!«, sagte Oliver stolz. »Schnapp!« Er lieferte damit gleich den Beweis.
Offensichtlich wollte Oliver nicht preisgeben, woher er die Sachen hatte, und Nick fand, das sei auch Olivers Sache. Trotz all seiner Probleme wurde ihm immer ein bisschen leichter ums Herz, wenn er zwischen den Köpfen der anderen Jungen Olivers wippenden Haarschopf auftauchen sah.
Aber die Gewalt hörte einfach nicht auf. Die anderen Jungen schafften es meistens, nicht erwischt zu werden, denn sonst hätten sie den Rohrstock zu spüren bekommen, aber da Nick in so viele Schlägereien verwickelt war, musste er zwangsläufig hin und wieder auffallen. In der ersten Woche bekam er vierundzwanzig Hiebe verpasst. Sein Hintern bestand nur noch aus rohem Fleisch. Kaum hatte sich Schorf gebildet, gab es die nächste Tracht Prügel. Die anderen Jungen machten einen Sport daraus, sich von hinten an Nick heranzuschleichen und ihm in den Hintern zu treten. Zum Schutz stellte sich Nick in den Pausen mit dem Rücken an die Wand.
Nick war erschöpft. Er dachte kaum noch an seine Mutter, die er erst vor so kurzer Zeit verloren hatte. Sie gehörte in eine andere Welt, ein anderes Leben, das mit ihr gestorben war. Er war ein Kriegsgefangener, ein Flüchtling, zu müde, zu furchtsam, zu sehr auf der Suche nach einem Ausweg, als dass er anderes als Angst oder
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