Nicholas Dane (German Edition)
mich zu nehmen. Sie bei dir zu Hause zu lassen wäre unsinnig gewesen. Ich muss dir leider sagen, dass euer Haus an die Verwaltung zurückgeht. Aber mach dir keine Sorgen, ich pass auf die Kassetten auf. Zumindest kannst du sie hier bei mir ab und zu mal hören. Möchtest du eine einlegen?«
Nick schüttelte den Kopf. »Nein, Sir …«, murmelte er; dann erinnerte er sich daran, dass er den Mann Tony nennen sollte. Erschrocken hielt er inne und erwartete, dass er bestraft würde.
Mr Creal guckte ihn an und stellte die Getränke ab. Er legte die Hände auf Nicks Schultern, führte ihn zum Sofa und bat ihn, sich zu setzen. »Ist nicht leicht, was?«, fragte er und nahm neben Nick Platz. »Diese Heime …« Er deutete mit der Hand zum Fenster, auf die ganze Anlage dahinter. »… zu wenig Geld, schlechtes Personal. Sie dienen als Abladeplatz für den Abschaum der Gesellschaft. Hier drinnen sind wir alle Geister und Waisenkinder, Nick. Aber es wird nicht ewig dauern, und bis dahin kann ich einiges tun, um dir das Leben ein bisschen zu erleichtern. Also.« Er streckte die Hand aus und zog die Cola heran. »Trink. Erst mal müssen wir dich wieder auf die Beine kriegen. Und dann überlegen wir, wie wir dein Leben etwas angenehmer gestalten können.«
Mr Creal ging noch einmal in die Küche, kam mit einem Teller Schokoladenkekse zurück und beide aßen ein paar. Zunächst stellte Mr Creal Nick weiter keine Fragen, sondern erzählte ihm einfach, was er selbst den Tag über getan hatte – er erzählte von einer Klospülung, die nicht richtig funktionierte, weil ein Junge die Torte von seiner Mutter in einer Plastiktüte im Spülkasten versteckt hatte. Aber natürlich war die Tüte undicht, so dass bei jeder Spülung eine ekelhafte Brühe ins Klo floss. Langsam entspannte sich Nick.
»Und wie war dein Tag, Nick?«, fragte Mr Creal ruhig.
Nick zuckte die Achseln, das typische »Keine Ahnung« eines Jugendlichen. Aber damit würde er hier nicht durchkommen. Erst zögerte er, dann brach alles aus ihm heraus. Die Prügeleien, die Schläge, die Gewalt … die überhaupt nicht aufhörte.
»Das ist doch verboten, oder? Ich meine, dass Mr Toms …«, fing Nick an.
Tony Creal verzog das Gesicht. »Theoretisch. Aber in solchen Heimen, Nick … Sobald sie dich hier abgeliefert haben, vergessen sie dich. Die Polizei ist froh, dass Jungen wie du weg von der Straße sind, die wird dir hier nicht raushelfen. Für die sind alle Jungen, die bei uns landen, der Abschaum der Gesellschaft – die Kriminellen von morgen. Und oft genug stimmt das ja auch.« Er nickte. »Du musst aufpassen. Es gibt hier einige sehr unangenehme Leute. Leider gehören manche davon zum Personal.« Er lehnte sich zurück und lachte lauthals über seinen Scherz.
Mr Creal betrachtete den Jungen und lächelte still vor sich hin. Schließlich gluckste er. »Weißt du was? Komm mal mit!« Er nahm Nick am Arm, brachte ihn ins Bad und stellte ihn vor den Spiegel.
»Guck dir das an«, sagte er.
Im Spiegel sah Nick ein höchst eindrucksvolles Monster. Blutende Nase, rot unterlaufene Augen, schwarz-dreckige Haut, rot-blaue Blutergüsse, jede Menge Kratzer, geschwollene Lippen – er sah aus wie …
»Du siehst aus, als wärst du ein paar Monate lang von der IRA verhört worden«, sagte Mr Creal. »Was tut dir am meisten weh? Nein, sag nichts, ich weiß schon: dein Hinterteil.«
Nick lächelte vorsichtig. Mr Creal beugte sich über die Wanne, steckte den Stöpsel rein und ließ Wasser einlaufen.
»Ich könnte dich bitten, es mir zu zeigen, aber ich glaube, du möchtest mir jetzt nicht deinen Arsch präsentieren, oder?« Er stand auf, trocknete sich die Hände ab und lachte. Nick kicherte, ein wenig hysterisch, einfach weil sich diese Worte aus dem Mund eines Erziehers von Meadow Hill sehr eigenartig anhörten.
»Wann hast du das letzte Mal richtig schön in der Wanne gelegen?«, fragte er.
Nick schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht mal daran erinnern. Mr Creal nahm eine Flasche vom Fensterbrett und kippte etwas daraus in die Wanne. Das Wasser schäumte auf.
»Du lässt dich mal richtig aufweichen, und ich mach uns was zu essen. Okay? Na los, rein mit dir.«
Er schloss die Tür und ließ Nick allein. Nick zog sich aus und ließ sich langsam in die Wanne gleiten. Das heiße Wasser brannte an seinen Wunden und Prellungen, trotzdem sank er in den Schaum, seufzte tief und schloss die Augen. Ahhh – welche Wonne. Er überlegte, ob er diese Atempause
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