Nicholas Dane (German Edition)
gestoßen waren, war die Palatine Road, die aus Northenden, dem Bezirk von Meadow Hill, hinausführte, dann durch Rusholme und an der Universität vorbei bis ins Herz von Manchester. Von dort kannten sie den Weg.
Jetzt mussten sie nur noch laufen.
Unterwegs sahen sie lauter Alltägliches, das für sie lange Zeit selbstverständlich gewesen, ihnen im Heim aber vorenthalten worden war. Imbissbuden, Läden mit Süßigkeiten, indische Restaurants. Hunde und Menschen, die sie ausführten. Musik, die ab und an aus den Häusern schallte – Duran Duran, Adam Ant, The Starship Explodes. Nick war noch nie so bewusst geworden, was ihm seit dem Tod seiner Mutter alles genommen worden war. Musik! Sogar Musik kann man Menschen vorenthalten. So wie Autos und Menschen und den Abfall auf der Straße und die Hundescheiße und die Risse im Pflaster. Nick freute sich über alles, was er sah und wieder Teil seines Lebens wurde. Es gehörte alles ihm. Noch einmal wollte er das nicht verlieren.
Während der ersten Meile oder so quatschten sie und lachten und imitierten das Personal von Meadow Hill oder sie spielten sich gegenseitig ihre Flucht vor, krümmten sich vor Lachen und machten sich über alles lustig. Davey stellte sich vor, wie Toms sie verprügeln wollte, obwohl sie gar nicht da waren, was beide aus unerfindlichen Gründen außerordentlich komisch fanden. Als der Mittagsverkehr nachließ, wurde Nick wieder nervös, und er meckerte rum, Davey solle sich nicht so auffällig verhalten. Sie liefen und liefen – bis sie der Hunger packte. In Meadow Hill war man immer hungrig, und seit dem mageren Frühstück im Heim waren Stunden vergangen, ohne dass sie etwas gegessen hatten. Sie waren völlig ausgehungert.
»Wir müssen was klauen«, sagte Davey. Er blickte Nick von der Seite an – er vermutete, dass sein Freund nicht mitmachen wollte, und erwartete schon ein »Nein, es ist noch zu früh, wir sind noch zu nah, wir sind noch nicht weit genug weg«.
Nick zögerte.
»Was solln wir machen? Verhungern?«, fragte Davey. »Pass auf, ich hab ’ne Idee.«
»Nicht schon wieder«, stöhnte Nick. Aber es stellte sich heraus, dass diese Idee nicht so schlecht war.
Daveys Idee hieß Nix-wie-weg-Fritten. Das ging so: Man geht in einen Imbiss, lässt sich Fritten geben und rennt dann, ohne zu bezahlen, weg.
»So schmecken sie besser«, sagte Davey.
Nick biss sich auf die Lippe. Davey und seine Geschwister hatten seit Jahren mehr oder weniger vom Klauen gelebt, aber Nick hatte nicht viel Übung. Seine Kumpels und er hatten zwar gelegentlich etwas mitgehen lassen – Süßigkeiten oder eine Zeitschrift, oder auch mal ein T-Shirt –, aber nur so zum Spaß. Das hier war anders. Klauen oder Verhungern.
»Ab jetz füttert dich keiner mehr durch, Alter«, sagte Davey. »Am besten, du gewöhnst dich gleich dran.«
»Sind wir nicht noch zu nah an Meadow Hill? Wenn die uns kriegen …«
»Wegen ’ner Tüte Fritten?«, sagte Davey. »Wer wird uns denn wegen ’ner Tüte Fritten hinterherrennen?«
»Vielleicht sollten wir lieber schnorren?«
»Schnorren!«, sagte Davey angewidert. Er fand nicht, dass Betteln unter seiner Würde war, nur, warum betteln, wenn man beim Stehlen besser wegkam? »Außerdem sind wir zu alt zum Schnorren«, sagte er. »Wenn du älter als zehn bist, hat keiner mehr Mitleid mit dir. Hier ist ’ne Frittenbude! Los!«
Nick war im Begriff, seine erste Mahlzeit zu stehlen.
»Und wenn sie nun erst das Geld wollen?«, fragte er.
»Dann haste Nix-Fritten«, sagte Davey. »Bei den Frittenbuden bei uns im Viertel musste immer erst bezahlen, sonst gibt’s gar nix, aber hier is das vielleicht anders.«
Also probierten sie es – und es war tatsächlich nicht so leicht. In den ersten beiden Läden verlangten die Leute hinter dem Tresen erst das Geld. Beim dritten hatte sich eine Schlange gebildet – Davey schüttelte den Kopf, und sie gingen weiter.
»Bei so vielen Leuten kommen wir nie schnell genug raus«, sagte er.
Im vierten aber klappte es. Der Mann hinterm Tresen gab Nick die Fritten. Nick hätte warten sollen, bis Davey seine hatte, aber er dachte nur: Bloß weg! Sobald er die Tüte in der Hand hatte, drehte er sich um und rannte los.
»Hey!«, schrie der Mann. Davey flitzte Nick hinterher.
»Hey!«, schrie der Mann noch einmal. Die beiden gaben Gas und rasten so schnell sie konnten den Bürgersteig entlang. Aber Davey behielt Recht: Wegen einer Tüte Fritten ließ der Mann seinen Laden voller Kunden
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