Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
spät es war. Direkt vor ihm waren am Himmel die ersten Anzeichen der Morgenröte zu sehen; er lief also Richtung Osten. Was würde wohl geschehen, wenn die Stadt erwachte und feststellte, dass ein prähistorisches Monster in den Straßen randalierte? Panik würde ausbrechen. Sämtliche Polizeikräfte und die Armee würden alarmiert. Allerdings hatte Josh mit seinem Schwert auf das Monster eingeschlagen und nichts damit ausgerichtet – ihm schwante, dass Kugeln wahrscheinlich genauso wirkungslos waren.
Die Straßen wurden immer schmaler und das Ungeheuer musste langsamer gehen, da es die Mauern rechts und links anrempelte. Josh stellte fest, dass er die Gestalt in Weiß bald eingeholt hatte. Er nahm an, dass es ein Mann war, aber sicher war er sich nicht.
Das Laufen strengte ihn jetzt nicht mehr an, er atmete nicht einmal mehr schwer. Das wochen- und monatelange Fußballtraining zahlte sich anscheinend aus. In seinen Turnschuhen bewegte er sich fast lautlos, und er ging davon aus, dass die Gestalt in Weiß nicht einmal im Entferntesten daran dachte, dass sie verfolgt wurde. Wer war schließlich so verrückt, ein Monster zu verfolgen mit nichts als einem Schwert in der Hand? Als er näher kam, stellte er fest, dass auch die Gestalt in einer Hand ein Schwert trug. In der anderen hatte sie etwas, das aussah wie ein überdimensionaler Hammer. Er erkannte die Waffe von World of Warcraft : Es war ein Streithammer, eine grausame und tödliche Variante der Keule. Als er weiter aufholte, sah er, dass die Person ein weißes Kettenhemd trug, Stiefel aus Metall und einen runden Helm mit Nackenschutz. Irgendwie überraschte ihn das nicht einmal.
Dann machte die Gestalt plötzlich eine Verwandlung durch.
Vor seinen Augen wurde aus einem Krieger in Ritterrüstung eine blonde junge Frau, nicht viel älter als er selbst, in Lederjacke, Jeans und Stiefeln. Lediglich Schwert und Streithammer wiesen sie als etwas Außergewöhnliches aus. Sie verschwand um eine Ecke.
Josh wurde langsamer. Er wollte nicht in die junge Frau mit den ungewöhnlichen Waffen hineinlaufen. Und wahrscheinlich war sie gar keine junge Frau.
Vor ihm schienen Steine und Glas zu explodieren, und er lief wieder schneller, bog um die Ecke – und blieb wie angewurzelt stehen. Das Ungeheuer steckte in der Gasse fest. Vorsichtig schlich Josh weiter. Wie es aussah, war das Monster wieder eine pfeilschmale Straße hinuntergetrampelt. Doch diese eine Straße machte am Ende eine Biegung und wurde noch schmaler; die oberen Stockwerke der Häuser auf beiden Seiten ragten über die Gehsteige darunter hinaus. Das Monster hatte sich in die Lücke gezwängt und aus beiden Häusern ein Stück Mauer herausgerissen. Bei dem Versuch, weiterzustürmen, hatte es dann festgestellt, dass es eingeklemmt war. Es warf sich von einer Seite zur anderen und Steine und Glas regneten auf die Straße. In einem Fenster sah Josh eine Bewegung: Ein Mann lugte heraus, Augen und Mund vor Entsetzen weit aufgerissen und wie gelähmt vom Anblick des Ungeheuers direkt vor seinem Fenster. Ein Stück Beton von der Größe eines Sofas fiel dem Monster auf den Kopf, doch das schien es überhaupt nicht zu merken.
Josh wusste nicht, was er tun sollte. Er musste irgendwie zu Scatty, aber das bedeutete, dass er um das Monster herumgehen musste, und dazu war schlicht kein Platz. Er beobachtete die blonde Frau, die die Gasse weiter hinunterrannte. Ohne zu zögern, sprang sie dem Monster auf den Rücken und lief Richtung Kopf, die Arme seitlich ausgestreckt, bereit, die Waffen einzusetzen.
Sie wird es töten, dachte Josh und war unendlich erleichtert. Vielleicht kam er dann an ihm vorbei und konnte Scatty befreien.
Da setzte die Frau sich rittlings auf den breiten Hals der Kreatur, beugte sich vor und zielte auf Scattys schlaffen, reglosen Körper.
Joshs entsetzter Aufschrei ging im Heulen der Sirenen unter.
»Monsieur, uns wird hier ein … Vorfall gemeldet.« Der kreidebleiche Polizeibeamte reichte das Telefon an Niccolò Machiavelli weiter. »Der Offizier von der RAID wünscht, Sie persönlich zu sprechen.«
Dee packte den Mann am Arm und wirbelte ihn herum. »Worum geht es?«, fragte er in perfektem Französisch, während Machiavelli dem Anrufer aufmerksam zuhörte. Er hatte sich einen Finger ins andere Ohr gesteckt, um den Lärm auszuschalten.
»Ich bin mir nicht sicher, Monsieur. Bestimmt ein Missverständnis.« Der Polizeibeamte versuchte ein unsicheres Lachen. »Die Leute melden, dass ein paar
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