Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
Bestimmte Geister waren ihr im Lauf der Zeit immer wieder erschienen, hatten sich zu ihr hingezogen gefühlt, weil sie wussten, dass Perenelle sie hören, sehen oder ihnen helfen konnte. Und oft auch, dachte Perenelle, ganz einfach deshalb, weil sie einsam waren. Mamom erschien so ungefähr alle zehn Jahre, nur um zu sehen, wie es ihr ging.
Doch auch wenn sie in der realen Welt keine Körperlichkeit besaßen, waren Geister nicht machtlos.
Perenelle öffnete die Augen und konzentrierte sich auf die aus dem Fels gehauene Wand direkt vor ihren Augen. Grünliches Wasser lief daran herunter, das nach Rost und Salz roch, den beiden Substanzen, die das Gefängnis Alcatraz letztendlich zerstört hatten. Dee hatte einen Fehler gemacht, genau so, wie sie es vorausgesehen hatte. Wenn Dr. John Dee eine große Schwäche hatte, dann war es Arroganz. Offenbar dachte er, sie sei machtlos, solange sie tief im Fels unter Alcatraz gefangen war und von einer Sphinx bewacht wurde. Wie er sich doch täuschte.
Alcatraz war ein Ort voller Geister.
Und Perenelle Flamel würde ihm zeigen, welche Kräfte sie noch immer besaß.
Sie schloss die Augen wieder, entspannte sich, lauschte den Geistern von Alcatraz und begann dann, mit ihnen zu reden, ihre Stimme kaum lauter als ein gehauchtes Flüstern. Sie rief sie zu sich, damit sie sich alle um sie versammelten.
K APITEL S ECHS
I ch bin okay«, murmelte Sophie schläfrig. »Wirklich, alles in Ordnung.«
»Du siehst aber nicht so aus«, keuchte Josh mit zusammengebissenen Zähnen. Zum zweiten Mal in zwei Tagen trug er seine Zwillingsschwester, einen Arm unter ihrem Rücken, den anderen unter ihren Kniekehlen. Vorsichtig ging er die Treppe von Sacré-Cœur hinunter, immer in der Angst, Sophie fallen zu lassen. »Flamel hat doch gesagt, dass dir jedes Mal, wenn du Magie gebrauchst, etwas von deiner Energie entzogen wird«, fügte er hinzu. »Und du siehst völlig fertig aus.«
»Mit geht es gut …«, murmelte sie. »Lass mich runter.« Doch dann fielen ihr die Augen erneut zu.
Die kleine Gruppe bewegte sich fast lautlos durch den dichten, nach Vanille duftenden Nebel, Scathach vorneweg und Flamel als Schlusslicht. Um sich herum hörten sie das Trampeln von Stiefeln, das Klirren von Waffen und die gedämpften Kommandos der französischen Polizisten und Spezialeinheiten, die die Treppe hinaufhasteten. Einige der Männer kamen ihnen gefährlich nahe, und Josh musste sich zweimal ducken, als eine uniformierte Gestalt vorbeirannte.
Plötzlich tauchte Scathach vor ihm aus dem Nebel auf, den kurzen, kräftigen Zeigefinger auf die Lippen gepresst. Wassertropfen hingen in ihrem roten Haar und ihre helle Haut wirkte noch blasser als sonst. Sie wies mit ihrem kunstvoll geschnitzten Nunchaku-Set nach rechts. In den Nebel kam Bewegung und plötzlich stand ein Gendarm fast direkt vor ihnen. Wassertröpfchen glitzerten auf seiner dunklen Uniform, und wenn sie die Hand ausgestreckt hätten, hätten sie ihn berühren können. Hinter ihm erkannte Josh einige französische Polizisten, die sich um etwas geschart hatten, das aussah wie ein altmodisches Karussell. Sie schauten alle nach oben, und Josh hörte immer wieder dasselbe, leise gemurmelte Wort: brouillard . Er wusste, dass sie sich über den seltsamen Nebel unterhielten, der sich plötzlich um die Kirche gelegt hatte. Der Gendarm hielt seine Dienstpistole in der Hand. Der Lauf zeigte zum Himmel, doch der Finger war am Abzug, und Josh wurde wieder daran erinnert, in welcher Gefahr sie schwebten. Die Gefahr ging nicht nur von Flamels nicht menschlichen und übermenschlichen Feinden aus, sondern auch von diesen nur allzu menschlichen Gegnern.
Sie gingen vielleicht noch ein Dutzend Stufen hinunter … da hörte der Nebel plötzlich auf. Gerade eben hatte Josh seine Schwester noch durch dichte milchige Schwaden getragen; jetzt stand er, als sei er durch einen Vorhang getreten, gegenüber einer winzigen Kunstgalerie, einem Café und einem Andenken-laden. Er drehte sich um und schaute auf die dichte Nebelwand. Die Polizisten waren kaum mehr als verschwommene Formen in der gelblich weißen Masse.
Scathach und Flamel traten aus dem Nebel.
»Du erlaubst«, sagte Scathach und nahm Josh Sophie ab. Er wollte protestieren – Sophie war seine Zwillingsschwester, er war verantwortlich für sie –, aber er war einfach hundemüde. Krämpfe durchzogen seine Waden und die Muskeln in seinen Armen brannten. Er hatte das Gefühl, seine Schwester eine kilometerlange
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