Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
seines langen Lebens hatte Niccolò sie mindestens ein halbes Dutzend Mal getroffen und jedes Mal war er gerade noch mit dem Leben davongekommen. Ihre letzte Begegnung hatte im Winter 1942 in den eisigen Ruinen von Stalingrad stattgefunden. Wäre sie ihnen nicht in die Quere gekommen, hätte seine Armee die Stadt eingenommen. Damals hatte er sich geschworen, dass er sie umbringen würde; vielleicht konnte er dieses Versprechen jetzt einlösen.
Doch wie tötet man eine Untötbare? Wer oder was konnte es mit einer Kriegerprinzessin aufnehmen, die die größten Helden der Geschichte ausgebildet hatte, die in jeder berühmten Schlacht gekämpft hatte und deren Kampfstil die Grundlage fast jeder derzeit gelehrten Kampfsportart bildete?
Machiavelli trat aus dem demolierten Café und atmete tief ein. Drinnen hatte es streng nach bitterem, verschüttetem Kaffee und saurer Milch gerochen. Dagon öffnete die Wagentür, als er sich näherte, und Machiavelli sah sein eigenes Spiegelbild in der Sonnenbrille seines Fahrers. Bevor er einstieg, ließ er den Blick über die Polizisten schweifen, die die Straße absperrten, über die schwer bewaffneten Männer des Spezialeinsatzkommandos, die in kleinen Grüppchen beieinanderstanden, und über die Beamten in Zivil in ihren nicht als Polizeifahrzeuge erkenntlichen Wagen. Der französische Geheimdienst stand unter seinem Kommando, er konnte die Schutzpolizei herbeizitieren und er hatte Zugriff auf eine private Armee aus mehreren Hundertschaften von Männern und Frauen. Aber er wusste, dass keiner es mit der Kriegerin aufnehmen konnte. Nach kurzem Überlegen fasste er einen Entschluss. Er schaute Dagon an, bevor er in den Wagen stieg.
»Zu den Disir.«
Durch Dagon ging ein Ruck; eine seltene Gefühlsäußerung. »Ist das klug?«, fragte er.
»Es ist nötig.«
K APITEL Z WÖLF
D ie Hexe hat gesagt, wir sollen um sieben zum Eiffelturm gehen und dort zehn Minuten warten«, sagte Flamel, als sie die schmale Seitenstraße hinunterliefen. »Falls niemand kommt, sollen wir um acht noch mal da sein und dann wieder um neun.«
»Wer soll denn kommen?«, fragte Sophie. Sie musste joggen, um mit Flamel Schritt halten zu können. Sie war hundemüde, und die paar Minuten, die sie im Café gesessen hatte, hatten sie nur noch deutlicher spüren lassen, wie ausgepowert sie war. Ihre Beine fühlten sich an wie Blei und sie hatte heftiges Seitenstechen.
Der Alchemyst zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wen die Hexe eben erreichen kann.«
»Du gehst also davon aus, dass es jemanden in Paris gibt, der bereit ist, dir zu helfen«, warf Scatty ein. »Du bist ein gefährlicher Feind, Nicholas, und wahrscheinlich ein noch gefährlicherer Freund. Tod und Zerstörung waren dir immer dicht auf den Fersen.«
Josh schaute seine Schwester von der Seite an; er wusste, dass sie ebenfalls zuhörte. Sie wich seinem Blick aus.
»Wenn niemand aufkreuzt, gehen wir eben zu Plan B über«, meinte Flamel.
Scathach lachte humorlos. »Ich wusste gar nicht, dass wir einen Plan A haben. Wie sieht Plan B aus?«
»So weit bin ich noch nicht.« Er grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Wenn nur Perenelle hier wäre. Sie wüsste, was zu tun ist.«
»Wir sollten uns aufteilen«, sagte Josh unvermittelt.
Flamel, der vorneweg ging, schaute über die Schulter. »Ich halte das für keine gute Idee.«
»Wir müssen aber«, beharrte Josh. »Es ist nur vernünftig.« Noch während er es sagte, fragte er sich, warum der Alchemyst so dagegen war.
»Josh hat recht«, sagte Sophie. »Die Polizei sucht nach vier Leuten. Bestimmt haben sie inzwischen unsere Beschreibung: zwei Jugendliche, eine rothaarige junge Frau und ein älterer Herr. Eine Gruppe, wie man sie nicht unbedingt alle Tage trifft.«
»Älterer Herr!« Nicholas klang fast beleidigt. Er sprach wieder mit starkem französischen Akzent. »Scatty ist zweitausend Jahre älter als ich.«
»Stimmt. Allerdings mit dem Unterschied, dass man es mir nicht ansieht«, neckte ihn die Kriegerin. »Aufteilen ist eine gute Idee.«
Am Ende der schmalen Straße blieb Josh stehen und schaute nach rechts und links. Überall heulten Polizeisirenen.
Sophie stellte sich neben ihren Bruder. Dem fiel plötzlich auf, dass ihre Ähnlichkeit zwar nach wie vor nicht zu übersehen war, dass sie aber Falten auf der Stirn hatte und so etwas wie ein Schatten über ihren blauen Augen lag. Die Iris war silbern gesprenkelt. »Roux hat gesagt, dass wir links zur Rue de Dunkerque kommen und
Weitere Kostenlose Bücher