Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
schwang Bitterkeit in seiner Stimme mit. Sophie zwang sich, den Mund zu halten. Das ständige Jammern ihres Bruders ging ihr langsam auf die Nerven. Sie hatte nicht darum gebeten, dass ihre Kräfte geweckt wurden. Sie hatte nichts von der Magie der Hexe oder auch von der Saint-Germains wissen wollen. Aber es war nun einmal so gekommen, und sie musste damit leben und Josh musste es endlich akzeptieren. »Gute Nacht«, wünschte sie noch und schloss die Tür hinter sich.
Josh blieb allein in der Küche zurück. Als er die letzte Scheibe Toast verdrückt hatte, nahm er den Teller und sein Glas und trug beides zum Spülbecken. Er ließ heißes Wasser über den Teller laufen und stellte ihn dann zum Abtropfen auf das Drahtgestell neben der tiefen Keramikspüle. Sein Glas füllte er noch einmal mit gefiltertem Wasser aus dem Krug, ging dann zu der Tür, die nach draußen führte, öffnete sie und trat in den winzigen Garten. Obwohl es fast schon Morgen war, war er kein bisschen müde, aber schließlich hatte er auch den halben Tag verschlafen. Über dem Rand der hohen Mauer sah er nicht viel von der Pariser Skyline, nur den warmen orangefarbenen Schein der Straßenlaternen. Er schaute hinauf in den Himmel, konnte aber keine Sterne entdecken.
Er setzte sich auf die kurze Treppe, die von der Tür in den Garten führte, und atmete tief durch. Die Luft war kühl und feucht, genau wie in San Francisco. Allerdings fehlte der vertraute Salzgeruch, den er so liebte. Stattdessen schwangen Gerüche mit, die er nicht kannte und von denen nur wenige angenehm waren. Sie kitzelten ihn in der Nase, und er schniefte, um nicht niesen zu müssen. Es stank nach überquellenden Mülltonnen und fauligem Obst, und dazwischen war ein noch üblerer Gestank, der ihm irgendwie vertraut vorkam. Er schloss den Mund und atmete tief durch die Nase. Was war es nur? Es war noch nicht lange her, dass er es gerochen hatte …
Schlange .
Josh sprang auf. Es gab keine Schlangen in Paris, oder? Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Er hatte panische Angst vor Schlangen, eine Angst, die tief in ihm verankert war und zurückging bis zu jenem einen Sommer, als er ungefähr zehn Jahre alt gewesen war. Damals war er mit seinem Vater im Wupatki Nationalpark in Arizona beim Zelten gewesen, war auf dem Pfad ausgerutscht und einen Abhang hinuntergeschlittert, direkt in das Nest einer Klapperschlange hinein. Als der Staub sich verzogen hatte, hatte er gesehen, dass er neben einer knapp zwei Meter langen Schlange lag. Sie hatte den keilförmigen Kopf gehoben und ihn mit kohlschwarzen Augen angeschaut – wahrscheinlich nur eine Sekunde lang, aber angefühlt hatte es sich wie eine Ewigkeit –, bevor Josh aus dem Nest hatte herauskrabbeln können, zu entsetzt und atemlos, um zu schreien. Er hatte nie verstanden, warum die Schlange ihn nicht angegriffen hatte, auch wenn sein Vater ihm erklärt hatte, dass Klapperschlangen ziemlich scheu sind und diese eine wahrscheinlich gerade gefressen hatte. Noch Wochen danach hatte er Albträume gehabt und jedes Mal war er mit dem modrigen Geruch der Schlange in der Nase aufgewacht.
Jetzt war der Geruch wieder da.
Und er wurde immer intensiver.
Josh ging rückwärts die Stufen hinauf. Plötzlich hörte er ein Scharren, leise, wie von einem Eichhörnchen, das am Stamm eines Baumes hinaufläuft. Dann erschienen, nur wenige Meter vor ihm am anderen Ende des kleinen Gartens auf der über zwei Meter hohen Mauer Krallen, jede so lang wie seine Hand. Sie tasteten den Stein ab, fast übervorsichtig, suchten nach Halt und packten plötzlich so fest zu, dass sie sich tief in die alten Ziegel gruben. Josh erstarrte; ein entsetztes Ausatmen, und sämtliche Luft strömte aus ihm heraus.
Die Arme, die den Klauen folgten, waren von einer dicken ledrigen Haut bedeckt … Und dann tauchte der Kopf eines Ungeheuers über der Mauer auf. Er war lang und flach mit zwei runden Nasenlöchern direkt über dem Maul am Ende einer klobigen Schnauze. Zu beiden Seiten des Kopfes lagen große schwarze Augen tief in den runden Höhlen. Josh war unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu atmen, und sein Herz hämmerte so stark, dass es durch seinen ganzen Körper dröhnte. Reglos beobachtete er, wie der gewaltige Schädel sich langsam nach rechts und links drehte. Eine ungeheuer lange, scheußlich weiße, gespaltene Zunge zuckte durch die Luft. Plötzlich erstarrte das Ungeheuer, drehte dann langsam, ganz langsam den Kopf und schaute auf Josh herunter. Die
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