Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
Zungenspitze schmeckte kurz die Luft und dann riss es das Maul weit auf – unwahrscheinlich weit, so weit, dass es ihn am Stück hätte verschlingen können. Josh sah ein Maul voller Zähne: spitze, schartige, gebogene Dolche.
Josh wollte sich umdrehen und schreiend ins Haus laufen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Die abstoßende Kreatur, die da über die Mauer gekrochen kam, hatte etwas Hypnotisches an sich. Sein ganzes Leben lang hatten ihn Dinosaurier fasziniert. Er hatte Versteinerungen gesammelt, Eier, Knochen und Zähne – sogar Dinosaurier-Kacke, Koprolithen. Und jetzt stand er einem lebenden Dinosaurier gegenüber. Ein Teil seines Gehirns identifizierte das Ungeheuer sogar – oder stellte zumindest fest, wem es ähnelte: einem Komodowaran. In freier Wildbahn wurden diese Tiere nicht größer als drei Meter, doch er sah jetzt schon, dass dieses Exemplar mindestens dreimal so groß war.
In der Mauerkrone knackte es. Ein alter Ziegelstein explodierte und zerfiel zu Staub, dann ein zweiter und ein dritter.
Danach krachte, knallte und knirschte es überall, und Josh sah, wie die Mauer mit dem darüberhängenden Ungeheuer schwankte und – fast in Zeitlupe – zusammenbrach. Die Metalltür faltete sich zusammen, sprang aus den Angeln und flog in den Brunnen, wo sie ein großes Stück vom Wasserbecken zertrümmerte. Das Monster krachte auf den Boden, unbeeindruckt von den Steinen, die auf seinen Rücken herabregneten.
Der Krach riss Josh aus seiner Trance, und als das Monster auf die Füße kam und direkt auf das Haus zutrottete, stolperte er endlich vollends die Treppe hinauf. Er warf die Tür hinter sich zu und schob die Riegel vor. In dem Moment, als er sich abwenden wollte, sah er durchs Küchenfenster eine Gestalt in Weiß durch das riesige Loch in der Mauer treten. In der Hand hielt sie etwas, das aussah wie ein Schwert.
Josh hob schnell sein Steinschwert vom Boden auf und rannte auf den Flur. »Aufwachen!«, brüllte er. In seiner Stimme lag eine solche Panik, dass er selbst sie nicht wiedererkannte. »Sophie! Flamel! Aufwachen!«
Die Tür hinter ihm bebte. Er warf einen raschen Blick über die Schulter und sah, wie die weiße Zunge des Monsters über Glas und Holz fuhr.
»Hilfe!«
Die Scheibe barst und die Zunge schoss in die Küche, fegte Teller zu Boden, schmiss Töpfe und Pfannen durch die Gegend und warf einen Stuhl um. Wenn die Zunge über Metall fuhr, zischte es; Holz verkohlte und wurde schwarz; Plastik schmolz. Ein Tropfen der ätzenden Spucke fiel auf den Boden, warf Blasen auf den Fliesen und fraß sich in den Stein.
Instinktiv schlug Josh mit Clarent nach der Zunge. Das Schwert berührte sie kaum, doch sie schnellte zurück in das Maul des Ungeheuers. Einen kurzen Moment verharrte das Monster reglos, dann rammte es den Kopf gegen die Tür.
Sie zersplitterte. Die Wände rechts und links bebten, als Steine herausbrachen. Das Monster zog den Kopf zurück. Ließ ihn noch einmal vorschnellen und vergrößerte das Loch. Das ganze Haus knirschte bedrohlich.
Eine Hand legte sich auf Joshs Schulter und ihm blieb fast das Herz stehen. »Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast. Du hast ihn wütend gemacht.«
Scathach betrat die verwüstete Küche und stellte sich in das Loch, das das Monster geschlagen hatte. »Nidhogg«, sagte sie, und Josh wusste nicht, ob sie mit ihm sprach. »Das bedeutet, dass die Disir nicht weit sind.« Es klang fast, als freue sie sich.
Scathach tänzelte ein paar Schritte zurück, als Nidhoggs Kopf erneut in das Loch fuhr. Er blähte die Nüstern, und die weiße Zunge leckte über den Fleck, an dem Scathach noch einen Moment zuvor gestanden hatte. Ein Spuckeklecks brutzelte auf der Fliese und verwandelte sie in Tonschlamm. Scathachs Schwerter zuckten nach vorn, blitzten grau und silbern auf, und zwei lange Schnitte erschienen auf der weißen, gespaltenen Zunge des Ungeheuers.
Ohne den Blick von der Kreatur zu wenden, sagte Scathach ruhig zu Josh: »Bring die anderen aus dem Haus. Ich mache das hier schon …«
Im selben Augenblick kam ein gewaltiger, klauenbewehrter Arm durchs Fenster, legte sich wie ein Schraubstock um ihren Körper und schleuderte sie mit solcher Wucht gegen die Wand, dass der Verputz herunterfiel.
Die Arme der Kriegerin waren an ihren Körper gepresst, sodass sie ihre Schwerter nicht führen konnte. Nidhoggs riesiger Kopf erschien in dem Loch in der Mauer. Das Monster riss das Maul auf und die klebrige, mit Säure überzogene Zunge fuhr
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