Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
selbst in Zeiten, als er arm war wie eine Kirchenmaus, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, sie zu verkaufen.
Er setzte sich ins Auto – die Sitze waren mit rotem Leder bezogen –, öffnete einen Umschlag aus Manilapapier und las noch einmal die Nachricht, die er in einer verschlüsselten E-Mail bekommen hatte. Ein ernst aussehender weißhaariger Mann blickte ihn von einer Schwarz-Weiß-Fotografie an. Das Bild zeigte den Mann, wie er gerade eine Straße überquerte. Im Hintergrund ragte der Eiffelturm über den Dächern auf, und der Datumsstempel unten auf dem Foto sagte, dass es am Weihnachtsabend aufgenommen worden war, also vor sechs Monaten. Der junge Mann überlegte träge, weshalb die Dunklen des Älteren Geschlechts einen ihrer bewährtesten Agenten beschatten ließen. Das Foto zeigte den Mann, den sie schicken wollten, damit er mit ihm zusammenarbeitete: Es war der Unsterbliche Niccolò Machiavelli aus Europa. Die Anweisungen der Erstgewesenen waren eindeutig: Er sollte Machiavelli in jeder Hinsicht unterstützen. Er fragte sich, ob der Italiener vom selben Kaliber war wie John Dee. Den Magier hatte er einmal kurz getroffen und er mochte ihn nicht. Für sein Gefühl gehörte er zu diesen arroganten Unsterblichen aus Europa, die sich für besser hielten als alle anderen, nur weil sie älter waren als die Vereinigten Staaten. Doch als er Machiavellis Akte durchgegangen war, hatte ihm der Mann durchaus gefallen. Er wurde als skrupellos, gerissen und intrigant beschrieben und als einer der gefährlichsten Männer Europas.
Er würde Machiavelli helfen, selbstverständlich. Im Grunde hatte er auch gar keine andere Wahl. Wer sich einem Befehl der Dunklen Älteren widersetzte, konnte sich gleich sein eigenes Grab schaufeln. Ganz persönlich war er ja der Meinung, dass er den Italiener gar nicht bräuchte. Er legte die Akte auf den Boden und drehte den Zündschlüssel um, drückte das Gaspedal durch und kurbelte am Lenkrad. Der Wagen beschrieb schlingernd einen Halbkreis, wobei er Sand und Steinchen aufwirbelte.
Billy the Kid hatte noch nie jemand anderen gebraucht.
K APITEL Z EHN
D er Autofriedhof glich einem Irrgarten.
Aufgetürmtes, rostiges Metall bildete Gassen, die vom Eingang aus in alle Richtungen führten und so schmal waren, dass kaum genug Platz blieb, um mit dem Wagen durchzufahren. Ein Wall aus Reifen, in mehreren Reihen hintereinander aufgeschichtet, ragte als Begrenzung gefährlich hoch auf. Eine Wand bestand komplett aus Autotüren, eine andere aus Kühlerhauben und Kofferraumdeckeln. Ein Turm aus Motorblocks voller Ölflecken und Schmiere stand neben einer Reihe von Auspuffrohren, die in den Boden gerammt worden waren und einer abstrakten Skulptur glichen.
Palamedes lenkte das schwarze Taxi tiefer in das Labyrinth aus abgewrackten Wagen hinein. Sophie war jetzt wieder hellwach. Sie hatte sich auf ihrem Sitz nach vorn gebeugt und blickte mit großen Augen durch die Scheibe. Auf seine Art war der Schrottplatz so faszinierend wie Hekates Schattenreich. Auch wenn es chaotisch aussah, wusste sie instinktiv, dass ein System dahintersteckte. Aus dem Augenwinkel sah sie auf ihrer rechten Seite etwas flattern und drehte rasch den Kopf. In der Dunkelheit bewegte sich etwas. Als sie sich wieder nach vorn wandte, sah sie auch hier einen Schatten auftauchen und wieder verschwinden. Sie wurden verfolgt, doch trotz ihrer geschärften Sinne gelang es ihr nicht, die Wesen zu Gesicht zu bekommen. Sie gewann lediglich den Eindruck, als bewegten sie sich aufrecht wie Menschen. »Ist das hier ein Schattenreich?«, fragte sie laut.
Flamel neben ihr wachte auf und regte sich. »Mitten in London gibt es keine Schattenreiche«, murmelte er. »Schattenreiche liegen am Rand von Städten.«
Sophie nickte – das wusste sie natürlich auch.
Palamedes bog scharf nach links in eine noch schmalere Gasse ab. Die zerklüfteten Metallwände rückten so dicht heran, dass sie fast die Wagentüren zerkratzten. »Wir befinden uns nicht mehr in der Innenstadt, Alchemyst«, sagte er mit seinem tiefen Bass, »sondern in einer der etwas anrüchigen Vorstädte. Und auch deine andere Behauptung stimmt nicht; ich kenne zwei Erstgewesene, deren kleine Schattenreiche mitten im Herzen von London liegen. Und die Eingänge von mindestens drei weiteren befinden sich ebenfalls dort, darunter auch der Eingang zum bekanntesten, und zwar im Teich hinter Traitor’s Gate im Tower.«
Josh verrenkte sich fast den Hals, um an den hohen Wänden
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