Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
kam er sich vor wie ein Zehnjähriger. Er hatte die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt und war unfähig, sich zu bewegen, hatte Angst zu sprechen, wagte kaum zu atmen, und sein Herz klopfte so wild, dass er am ganzen Körper zitterte. Er wusste, wenn er sich jetzt bewegte, würde er umfallen oder aus dem Zimmer laufen wie ein kleines Kind, und wenn er redete, würde er weinend zusammenbrechen. Doch er hatte sich vorgenommen, vor Roland Dee keine Schwäche zu zeigen. Über der rechten Schulter seines Vaters konnte er durch das winzige rautenförmige Fenster eine der Spitzen des nahe gelegenen Tower sehen. Steif und stumm stand er da und ließ seinen Vater weiterlesen.
John Dee hatte schon immer gewusst, dass er anders war.
Er war ein Einzelkind, und schon sehr früh war klar gewesen, dass er eine außergewöhnliche Begabung für Mathematik und Sprachen hatte. Er konnte nicht nur Englisch lesen und schreiben, sondern auch Latein und Griechisch. Französisch und ein wenig Deutsch hatte er sich selbst beigebracht. John vergötterte seine Mutter Jane, und wenn es Probleme mit dem dominanten Vater gab, war sie immer auf seiner Seite. Ermutigt durch seine Mutter, hatte John es sich in den Kopf gesetzt, das St. John’s College in Cambridge zu besuchen. Er hatte gedacht – gehofft –, dass sein Vater sich freuen würde, doch Roland Dee war Stoffhändler, der an Heinrichs Hof einen unbedeutenden Posten innehatte und dem zu viel Bildung Angst machte. Roland hatte erlebt, was mit gebildeten Männern am Hof geschah. Es war sehr leicht, den König zu erzürnen, und Männer, die dies zu oft taten, landeten im Gefängnis oder starben, nachdem man ihnen ihre Ländereien und ihr gesamtes Vermögen abgenommen hatte. John wusste, dass sein Vater ihn gern in seinen Fußstapfen gesehen hätte, und um das Familienunternehmen fortzuführen, genügte es, wenn er lesen und schreiben und eine Zahlenreihe addieren konnte.
Doch John Dee wollte mehr.
An diesem Tag im April 1542 hatte er sich endlich ein Herz gefasst und seinem Vater gesagt, dass er aufs College gehen würde, mit oder ohne väterliche Erlaubnis. William Witt, sein Großvater, hatte sich bereit erklärt, die Gebühren zu bezahlen, und Dee hatte sich ohne Wissen seines Vaters angemeldet.
»Und wenn du auf diese Schule gehst, was dann?«, fragte Roland, und sein buschiger Bart zitterte vor Wut. »Sie stopfen dich mit unnützem Wissen voll. Du wirst Latein und Griechisch lernen, Mathematik und Philosophie, Geschichte und Geografie, aber was nützt mir das – oder dir? Du wirst dich damit nicht zufrieden geben. Du wirst dir immer mehr Wissen erwerben wollen und das wird dich auf dunkle Pfade führen, mein Junge. Du wirst nie zufrieden sein, weil du nie genug weißt.«
»Sag, was du willst«, hatte der Fünfzehnjährige herausgepresst. »Ich gehe.«
»Dann wirst du wie ein Messer werden, das geschärft wird, bis es stumpf ist. Du wirst ein unbrauchbares Werkzeug werden … Und was soll ich mit einem unbrauchbaren Werkzeug anfangen?«
Dr. John Dee öffnete die Augen und konzentrierte sich wieder auf die Straßen im modernen London.
Nach diesem Tag hatte er kaum noch mit seinem Vater gesprochen, auch dann nicht, als man den alten Mann im Tower von London eingesperrt hatte. Dee war nach Chelmsford gegangen und danach in das neu gegründete Trinity College, und er hatte sich rasch den Ruf erworben, einer der genialsten Männer seiner Epoche zu sein. Aber es gab Zeiten, da erinnerte er sich an die Worte seines Vaters und erkannte, dass Roland Dee recht gehabt hatte. Sein Wissensdurst war unstillbar und hatte ihn auf einige sehr dunkle und gefährliche Pfade gelockt. Am Ende hatte er ihn zu den Dunklen des Älteren Geschlechts geführt.
Und irgendwo in seinem Gedächtnis, an diesem dunklen, geheimen Ort, wo nur die schmerzlichsten Erinnerungen begraben waren, lauerten diese drei bitteren Wörter.
Ein unbrauchbares Werkzeug .
Egal was er erreichte – seine außergewöhnlichen Erfolge, seine erstaunlichen Entdeckungen und ungeheuer genauen Vorhersagen, selbst seine Unsterblichkeit und sein Umgang mit Gestalten, die über Generationen hinweg als Götter verehrt worden waren – diese drei Wörter hatten ihn immer verhöhnt, weil er insgeheim Angst hatte, sein Vater könnte auch in diesem Punkt recht gehabt haben. Vielleicht war er tatsächlich ein unbrauchbares Werkzeug.
Er räusperte sich, hob den Kopf, heftete ein fragendes Lächeln auf sein Gesicht und wandte sich
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