Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
Josh den Atem raubte. Und dennoch … Vor einer Woche hätte er noch gesagt, es sei lächerlich, aber jetzt … Er spürte, wie die Seiten des Codex auf seiner Brust immer heißer wurden, und plötzlich erschien ihm die Idee gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Die Welt regieren. Er lachte zittrig. »Ich glaube, Virginia hat recht. Du bist wirklich verrückt geworden.«
»Nein, nicht verrückt. Bei vollem Verstand. Zum ersten Mal in meinem langen Leben fange ich an, die Dinge klar zu sehen. Glasklar. Ich war mein Leben lang ein Diener, ein Diener der Königin und des Landes, des Älteren Geschlechts und der nächsten Generation. Ich habe die Wünsche der Menschen und der Unsterblichen erfüllt. Jetzt wird es Zeit, dass ich der Herr werde.«
Josh blickte stur geradeaus und sagte nichts. Er fuhr am Ferry Building vorbei. Die Uhr am Turm zeigte 11:30. Irgendwann brach er das Schweigen. »Was hast du vor?«, fragte er und hatte auf einmal ein ganz komisches Gefühl im Magen. Noch während er fragte, begannen die Seiten des Codex wieder warm an seiner Haut zu pulsieren. Es war wie ein Herzschlag.
»Ich werde die Wesen des Älteren Geschlechts mit der Kraft des Codex vernichten.«
»Sie vernichten?« Joshs Magen hob sich. »Aber du hast doch gesagt, wir brauchen sie.«
»Wir bräuchten ihre Kräfte«, erwiderte Dee rasch, »um die Welt wieder aufzubauen. Aber was wäre, wenn wir über diese Kräfte verfügen würden? Was wäre, wenn wir all das tun könnten, was auch sie können? Dann bräuchten wir sie nicht. Wir würden werden wie Götter.«
»Hast du gesagt, du willst die Älteren vernichten?«, fragte Virginia leise nach, den Blick fest auf Dee gerichtet.
»Ja.«
»Alle?«, fragte sie ungläubig.
»Alle.«
Sie lachte entzückt auf. »Und wie stellst du dir das vor, Doktor? Sie sind auf über tausend Schattenreiche verteilt.«
Dees Aura leuchtete um ihn herum wie ein gelber Pilz. »Jetzt sind sie das. Aber es gab einmal eine Zeit, als sie alle an einem Ort versammelt waren und längst nicht so mächtig wie heute.«
Virginia schüttelte verwirrt den Kopf. »Wann? Wo?«
Urplötzlich wusste Josh die Antwort. »Vor zehntausend Jahren«, sagte er leise. »Auf Danu Talis.«
KAPITEL ELF
D er einäugige Ältere stapfte durch eine Welt aus Metall. Er wusste, dass es Leben in diesem Schattenreich gab, doch zu erkennen war es nicht.
Grobkörniger schwarzer Sand wirbelte auf und bildete geheimnisvolle Muster unter seinen Füßen. Riesige, unnatürlich gleichmäßige Felsbrocken bebten, setzten sich in Bewegung und rückten zentimeterweise auf ihn zu, als er vorbeiging. Bleiblasen stiegen an die Oberfläche silbrig glänzender Seen, und wenn sie platzten, hüpften winzige Kügelchen auf die einsame Gestalt zu. Es gab keinen Himmel, nur weit oben ein metallenes Dach, das von mehrfarbigem Licht überzogen war. Früher einmal hatte es in der Mitte des Daches eine Energiequelle gegeben, doch die war längst ausgebrannt.
Odin wusste nicht, wer dieses Schattenreich aus Metall erschaffen hatte. Er ging davon aus, dass es einmal eine florierende Welt war, und er wusste, dass sie nicht unbedeutend gewesen sein konnte – der Aufwand, der zu ihrer Erschaffung betrieben worden war, musste gigantisch gewesen sein und hätte seine bescheidenen Kräfte um ein Vielfaches überstiegen. Doch jetzt hatte sie nicht mal mehr einen Namen.
Der Ältere bestieg einen kleinen Hügel aus glitzerndem schwarzen Quarz. Dann drehte er sich um und blickte zurück über die Landschaft. Eine Reihe dunkler, sanft geschwungener Sanddünen, hier und da gesprenkelt mit Metallplatten, erstreckte sich bis zum Horizont. Es war windstill und dennoch war der grauschwarze Kapuzenumhang auf seinem Rücken in Bewegung. Vor Tausenden von Jahren hatte einer seiner menschlichen Diener einen grässlichen Archon in Gestalt eines Drachenungeheuers getötet und ihm einen Umhang geschenkt, der aus der Haut der Kreatur gemacht worden war. Seine natürliche Farbe war blau, doch sie passte sich der jeweiligen Umgebung an, und wenn Gefahr drohte, verhärteten die Schuppen sich.
Jetzt war der Umhang steinhart geworden und hing schwer von seinen Schultern.
»Wer da?«, rief Odin. Die metallene Landschaft schickte seine Stimme als Echo über den Sand. Sie hallte von der Decke wider und von den metallhaltigen Felsbrocken. Der Ältere schloss die knorrigen Finger seiner linken Hand fester um den Stock, den er bei sich trug. Es handelte sich um ein Überbleibsel des
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