Nicht die Bohne!
durchgeliebt und durchgelitten haben. Erst dann weißt du am Ende deiner Tage, dass dir das Leben quer durchs Herz geflossen ist.«
Ich bekomme eine Gänsehaut. Das ist wunderschön, sehr kryptisch und vermutlich wahr. Durchgelebt, durchgeliebt und durchgelitten habe ich seit dem blauen Plus auf dem Schwangerschaftstest verdammt viel. In Anbetracht meines hysterischen Anfalls gestern Abend vielleicht zu viel. Im nächsten Moment kommt ein weiterer Zettel durch den kleinen Schlitz unter der Tür hindurch. Bin ich froh, dass unser Hausmeister so schlampig ist und es in acht Jahren nicht geschafft hat, die Lücke unter der Wohnungstür abzudichten. Auf dem nächsten Zettel steht:
Auf diese Zeilen bin ich im Internet gestoßen, sie stammen von einer Frau namens Irma Grothe, und ich denke, sie hat recht. Ich kann nur ahnen, was dich zu deinen Worten gestern bewogen hat. Aber ich habe auch viel durchlebt, durchliebt und durchlitten. So viele Gefühle, die gar keinen Namen haben und einfach da waren oder sind. Können wir nicht versuchen, einfach alles, was quer durch unser Herz geflossen ist, zusammen zu tun?
Kraftlos setze ich mich auf den Boden und starre die Wand an. Hat Simon die ganze Nacht vor meiner Tür verbracht? Im nächsten Moment kommt Zettel Nummer drei zu mir geflattert.
Ich liebe dich so, Paula. Ich kann nicht mehr ohne dich sein. So wie du bist, liebe ich dich. MIT der Bohne. So wie du mir gesagt hast, dass du mich auch OHNE Bein liebst.
Ich fange an zu weinen. Wie immer mit viel Rotze, aber lautlos, falls Simon vor meiner Tür noch mehr wichtige Dinge auf kleine Zettel schreiben möchte. Ich bin eigentlich gar nicht hier. Also weine ich lautlos und presse die drei Zettel gegen meine Brust. Nummer vier lässt nicht lange auf sich warten.
Ich weiß doch auch nicht, wie genau es funktionieren wird. Aber ich glaube fest daran. So wie du an mich geglaubt hast. Einfach so. Ich stehe zu dir! Kannst du mir das glauben?
Ob ich ihm das glauben kann? Ja, das kann ich. Auch wenn ich genauso wenig Ahnung habe, wie wir in Zukunft zu dritt zusammenleben wollen. Ohne weiter nachzudenken, stehe ich einen Atemzug später an der Tür und reiße sie auf.
Simon sitzt mit zerzausten Haaren auf der Treppe, bewaffnet mit einem Block, einem Kuli und einer Tasse Kaffee. Des Weiteren sind noch sein iPod, sein Handy, ein Schal und ein halb gegessener Apfel um ihn herum verteilt. Er zuckt zusammen, als die Tür so jäh aufgeht, und starrt mich aus roten Augen ein wenig fassungslos an. Vermutlich hat er mich nicht direkt hinter der Tür erwartet.
»Morgen«, sagt er etwas kläglich. Und als ich nicht antworte, fährt er nervös fort: »Du hast nette Nachbarn. Einer hat mir heute Nacht um drei Kaffee gebracht, der musste wohl zum Schichtdienst. Und die ältere Dame über dir hat mich um sechs mit einem Toast und einem Apfel versorgt und meinen iPod bewundert.« Er versucht sich an einem schrägen Lächeln.
»Du hast die ganze Nacht da gehockt?«, bringe ich unter meiner Tränenflut hervor, und er nickt nur. Dann zieht er sich am Treppengeländer hoch. »Soll ich fahren, oder darf ich bleiben?«
»Bleiben«, quetsche ich zwischen ein, zwei Schluchzern hervor, und Simon beginnt, seine Siebensachen einzusammeln. Ich schließe die Tür hinter ihm, und für einen Moment bleiben wir einfach dicht voreinander stehen. Dann schließt Simon mich in seine Arme, und ich murmle: »Es tut mir so leid.«
Er streichelt mir über die Haare und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann schaut er mich streng an und sagt: »Mach das nie wieder mit mir, Paula Schmidt.«
In den nächsten drei Stunden schaffen wir es, sieben Umzugskartons zu packen. Wir haben uns nämlich kollektiv krankgemeldet und verbringen den restlichen Tag zu Hause. Ich fühle mich wirklich wie durch den Fleischwolf gedreht, und Simon erklärt Elena kurzerhand, dass er seine Frau in diesem Zustand nicht alleine lassen kann. »Seine Frau« – so wurde ich noch nie in meinem Leben tituliert, und irgendwie fühlt es sich ganz gut an.
Kapitel 29
Den ganzen Tag über klebt Simon an mir wie eine Klette, und anscheinend brauche ich diese nahezu symbiotische Nähe auch dringend. Die neue Instanz in meinem Kopf ist vollends befriedigt und schweigt. Vermutlich döst sie selig lächelnd in einer Hängematte in meinem Hypothalamus vor sich hin, denn mehr Nähe geht nicht.
Ein klein wenig verstört mich diese plötzliche Anhänglichkeit schon. Bisher war ich ja eher
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