Nicht ganz schlechte Menschen
inkorrekt, unter Wert behandelt und bereute dies nun. Karl
erzählte in drei, vier Sätzen, daß er Zanoussi in Paris kennengelernt und in
Barcelona per Zufall getroffen habe, bevor sie zusammen ein Gefängnisschiff
geentert und alle Insassen massakriert hätten.
Ach was? Pierre lachte los. Was machst du denn für Sachen, Karl?
Ich hab nur zugesehen, schlimm genug.
Es stimmt, er hat nur rumgestanden und gekotzt, meinte Zanoussi, in
bedauerndem, lakonischem Tonfall.
Prompt entstand eine eigenartig ausgelassene Stimmung am Tisch, zwischen
Verwirrung und surrealem Witz. Und was war das mit der Schwuchtel? Wollte Max
hartnäckig wissen, aber das Gespräch nahm einen anderen Verlauf. Zanoussi
berichtete über die Massenverhaftungen, denen er nur durch die Flucht aufs Land
knapp habe entgehen können. Etliche führende Anarchisten seien ohne jede
Anklage füsiliert worden, oft vor den Augen ihrer Kinder. Wo man eben noch
bereit war zu lachen, kippte die Stimmung in Betroffenheit um.
Zanoussi beschrieb die Foltermethoden des SIM ,
die dem Erfahrungsschatz des NKWD entstammten.
Heißes oder eiskaltes Wasser, mit dem die Häftlinge verbrüht oder verkühlt
werden, Scheinhinrichtungen, Lärmfolter, ständige Orientierungslosigkeit, die
schnell zum Wahnsinn führt, das Sitzen oder Liegen auf Böden, aus denen spitze
Scherben ragen, undsoweiter. Die Verhaftungen geschähen völlig willkürlich, oft
sei nicht einmal eine Denunziation vonnöten. Die Sowjetkommissare verdächtigten
beinahe jeden, es reiche aus, ein falsches Buch zu besitzen, um in den Kerkern
zu landen. Wenn man nicht das Glück habe, gleich erschossen zu werden, müsse
man mit einer monatelangen Isolationshaft rechnen, und wer zuletzt freikam,
einfach, weil es nicht genug Zellen gab, der sei an Körper und Seele
zerbrochen. Einige der politisch Verantwortlichen redeten und handelten wie
Geisteskranke, wie pathologische Sadisten, die sich mit einer
bürokratisch-phrasenhaften Sprache rechtfertigten. So sei es auf dem Höhepunkt
eines schwierigen Krieges im Zweifelsfall besser, wenn einige Unschuldige ihr Leben verlören, als daß ein feindlicher Spion weiterhin seiner Zersetzungsarbeit nachgehen könne, die den
Tod so vieler Unschuldiger verursachte.
Karl warf
immer wieder ein Nana , oder Naja oder Blabla dazwischen, um das Gesagte zu diskreditieren, als Propaganda eines
verbitterten Verlierers. Zanoussi ging darauf nicht ein und zeigte große Würde
und Beherrschtheit bei seinem Vortrag. Das militärische Desaster ergebe sich
unter anderem daraus, daß nichtkommunistischen Generälen wichtige Informationen
über die Front einfach vorenthalten würden. Etliche Sozialisten, die sich
weigerten, in die KP einzutreten, seien
unter falschen Anklagen wie Feigheit oder Sabotage erschossen worden.
Lachhaft .
Meinte Karl. Was wäre der Sinn davon?
Wenigstens, so schloß Zanoussi seinen Bericht über die Greuel, haben
auch die naiven Idioten von der POUM dran glauben
müssen. Noch das Schlimmste trägt eine Spur Gutes in sich. Hier bin ich nun. Zu
Fuß, bei Nacht und Nebel über die Pyrenäen gekommen, stolz und hungrig auf
Heimatboden angelangt. Ihr seid alle, das kann ich fühlen, stattliche,
bemerkenswerte Menschen. Es ist traurig, daß ihr so bald tot sein werdet. Und
schön, daß ihr noch lebt.
Seine Worte hinterließen in der Runde ein halb feierliches, halb
ratloses Schweigen. Man sah sich untereinander an, wie um durch bloße Blicke
einen Konsens zu vereinbaren. Es war an Pierre, das Urteil zu fällen. Zanoussi
erwartete die Entscheidung kauend. Ein mit Butter und Kirschmarmelade
bestrichenes Croissant nach dem anderen schob er sich zwischen die schwarz
verfärbten Zähne. Insgesamt, sosehr er auch bemüht war, sich in Szene zu
setzen, hinterließ er den bemitleidenswerten Eindruck eines Mannes, der von
fremder Hilfe so abhängig war wie kaum jemand sonst.
Pierre dachte nach. Ein wenig aus Faulheit, mit dem Gestus eines
trägen Cäsars, entschied er, daß Zanoussi vorerst bleiben könne, auch
unentgeltlich. Er müsse aber mit einer einfachen Schlafstätte neben der Küche
vorliebnehmen. Immerhin würde er es dort warm haben und müsse nicht als Gast in
den Büchern geführt werden, falls er Bedenken trage, seinen Aufenthalt den
offiziellen Stellen bekannt zu machen. Und wie er die trage, sagte Zanoussi.
Und bedankte sich mit einer tiefen Verbeugung für die Hilfe. Neben der Küche
wohne er ohnehin am liebsten. Pierre sei ein Wohltäter der
Weitere Kostenlose Bücher