Nicht mehr tun, was andere wollen
In den nächsten Tagen eskalierte das Verhalten sowohl bei den Wachen als auch bei den Gefangenen und kippte ins Psychotische. Nach 36Stunden wurde ein Gefangener hysterisch. Man entfernte ihn und noch vier weitere Teilnehmer aus dem Experiment, auf Grund von starken Depressionen, Wutanfällen und akuten Angstzuständen. Einer von ihnen erklärte:
» Ich fühlte mich, als würde ich langsam, aber sicher meine Identität verlieren, die Person, die ich ›Clay‹ nannte und die mich für dieses Gefängnis angemeldet hatte– und für mich war das wirklich ein richtiges Gefängnis, ich sehe das heute noch als ein richtiges Gefängnis. Ich sehe es nicht als Experiment oder Simulation, es war ein Gefängnis, das eben nicht vom Staat, sondern von Psychologen geführt wurde. Ich begann zu spüren, wie die Identität, also die Person, die ich war und die entschieden hatte, dass ich in dieses Gefängnis gehen sollte, ganz weit weg von mir war– sie war so weit weg von mir, dass sie zum Schluss überhaupt nicht mehr ich war. Ich war 416. Ich war wirklich meine Nummer.«
Diese Aussage unterscheidet sich nicht wesentlich von den Berichten richtiger Gefangener in richtigen Gefängnissen. Erschreckend ist aber, wie schnell das alles ging. Die Wachen hatten keine Anweisung erhalten, sich so zu verhalten, wie sie sich verhielten. Es waren mental stabile, normale Menschen, die sich genauso gut in der Rolle des Gefangenen hätten wiederfinden können. Aber es dauerte nur ein paar Stunden, bis sie begannen, ein unnötig grausames Verhalten an den Tag zu legen. Nach nur anderthalb Tagen musste man den ersten Gefangenen, der vorher noch stabil und gesund gewesen war, gehen lassen, weil er einen akuten mentalen Zusammenbruch erlitten hatte. Zimbardo hatte zunächst vorgehabt, das Experiment über zwei Wochen auszudehnen. Doch dann war man schon nach sechs Tagen gezwungen, es abzubrechen, weil die Situation unhaltbar geworden war. Das klingt vielleicht unwahrscheinlich– doch Sie dürfen niemals die Macht Ihrer Umgebung oder Ihrer momentanen Situation unterschätzen. Drei schwarz lackierte Zellentüren und eine bestimmte Beziehung zu einer anderen Person– » Du bist Wächter, er ist Gefangener«– können ausreichen, um uns in Unmenschen zu verwandeln.
Ganz zufällige Umstände, z. B. die Umgebung, in der Sie sich aufhalten, die Person, der Sie begegnen, eine Aussage, die Sie über jemand– oder über sich selbst– hören, die sich jedoch als falsch herausstellt, können dazu führen, dass Sie sich bestimmte Meinungen über Menschen oder sich selbst bilden. Und es hilft auch nichts, wenn Sie hinterher erfahren, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, wenn man Ihnen sagt, dass es überhaupt keinen Zusammenhang gab und Ihre Meinung auf einem Fehlschluss basiert. Sie werden weiterhin so denken wie zu Anfang. Seien Sie also vorsichtig mit Ihren Urteilen. Sehen Sie sich ab und zu mal um. Überlegen Sie, inwiefern die Umgebung Ihre Taten und Meinungen beeinflusst. Und wenn Sie so richtig paranoid werden wollen, dann können Sie auch mal drüber nachdenken, ob der Ort, an dem Sie sich befinden, die Äußerungen, die andere Ihnen gegenüber machen, und die Dinge, die Sie gerade gelesen haben, vielleicht ganz bewusst dafür gemacht waren, Ihre Meinung subtil zu beeinflussen. Nehmen wir z. B. die politische Rede, die Sie zu hören bekommen. Die Schuhe von Adidas, die Sie gerade in der Hand haben. Die charismatische religiöse Führungsgestalt. Oder vielleicht geht es auch um Ihr Selbstbild. Es ist nicht überraschend, wenn Sie im Januar deprimiert sind– es ist einfach immer so dunkel und kalt.
Ablenkung
Bevor er für sein Gefängnisexperiment berühmt wurde, war Zimbardo darauf gekommen, dass man sich einfacher beeinflussen lässt, wenn man während des Beeinflussungsversuchs leichter Ablenkung ausgesetzt ist. Es durfte jedoch keine beliebige Störung sein, sie musste positiver Art sein. Bei seinen Versuchen setzte Zimbardo etwas ein, das er als » leichte erotische Ablenkung« bezeichnete. Während die Personen, die beeinflusst werden sollten, einer Rede zuhörten, wartete die Assistentin des Redners am Eingang. Sie war sehr leicht bekleidet und außergewöhnlich hübsch. (Ich schätze, Zimbardo hatte hauptsächlich Männer für seine Versuchsgruppe eingeladen.) Diejenigen, die der Rede lauschten, während die Assistentin anwesend war, waren wesentlich geneigter, sich dem Redner anzuschließen, als diejenigen, bei denen sie nicht dabei
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