Nicht ohne Beruf (German Edition)
herüber oder man wurde dorthin geschickt.
Mein Interesse daran, was der Arzt mit mir anstellte, war größer als me ine Sorge um die Blutvergiftung.
Der Tagesablauf war geregelt. Alle Schu lpflichtigen verließen morgens das Haus. Nur die Kleidung sagte mir nicht zu mit meinen 13 Jahren. Die grob gestrickten Strümpfe wechselte ich unterwegs. ‚Florstrümpfe’ nannte man damals die, die ich mir von meiner Schwester geben ließ.
Das Haus unterstand nicht dem Jugendamt, sondern der Stadt. Der Herr Stadtrat, ein runder freundlicher Herr, kam manchmal um zu prüfen, ob alles in Ordnung war. Die Stadtkasse bekam wohl auch die Gelder von den Angehörigen, soweit noch welche lebten, für die Heimplätze.
Mein Vater wurde vermutlich auch zur Kasse gebeten.
Eines Tages auf dem Schulweg, noch nahe des Hauses, kam er mir entgegen. Doch ich trat rasch zur Seite. Ich wollte ihn nicht sprechen. Zu tief saß all das so unerfreulich Erlebte in mir, besonders dass er meiner Mama so viel Leid angetan hatte. Und über den durch seine Sauferei verursachten sozialen Abstieg schäme ich mich heute noch.
Zügig tippe ich Muttis emsig verfassten Seiten ab. Doch an dieser Stelle drängen sich mir so starke Parallelen auf, dass ich sie unbedingt einflechten muss.
Es verblüfft , wie Mutti reagiert hat, als ich in einer ähnlichen Situation mit Vati war. Mit zehn Jahren erfuhr ich zufällig, dass er noch vor Kriegsende eine andere Frau geheiratet hatte und in Lützen lebte, nahe Leipzig. Mutti und Anna hatten mir einen Bären aufgebunden: Vati wäre im Westen und könnte nicht zu uns kommen.
Meine Reaktion war damals ganz genau so wie die der 13jährigen Leni: Ich betracht ete das als Verrat an Mutti und mir. Doch als ich ihr zu verstehen gab, dass ich diesen Mann nie wieder sehen wollte, beschwichtigte sie und meinte, es gäbe zwischen Erwachsenen, vor allem unter Ehepaaren, Dinge, die ein so junger Mensch wie ich nicht beurteilen könnte. Und er bliebe doch trotz allem mein Vater!
Jedoch ihrem eigenen Vater gegenüber blieb sie unversöhnlich bis zu ihrem let zten Tag. Erkenntnisse über traumatisierte Kriegsteilnehmer, spätestens seit den Vietnamveteranen, fruchteten nicht.
Ich hätte recht gerne einen Großvater e rlebt.
Es waren in dem Heim für mich fröhliche und sorglose Zeiten. Durch die Kontakte, die zw ischen Rathaus und Heim bestanden, trat eines Tages etwas ganz Neues an mich heran: Die Familie des Rechnungsdirektors brauchte für ein paar Nachmittagsstunden jemanden, der mit ihren Kindern spielte. Das wurde mir gestattet, und so bekam mein Alltag einen neuen Charakter. Die Villa der Ri. lag weiter weg, war aber zu Fuß durch den Stadtpark leicht zu erreichen.
Die meiste Freizeit verbrachte ich nun dort, bis zu meiner Konfirmation, die im Freiberger Dom stattfand.
Die Kinder hatten einen Laubfrosch, der gefüttert sein wollte. Im Kuhstall eines in der Nähe gelegenen kleinen Gehöfts war es ein Leichtes, mit einem übergestülpten Glas lebende Fliegen zu fangen.
Frische Kuhmilch nahmen wir von dort ohnehin stets mit. Oh, die dicke Sahne! Nach dem Abkochen bildete sich eine dicke Schicht, die ich essen durfte. Wir Ki nder bekamen die Milch ja abgekocht, die dann abgeseiht wurde.
Der Weg von Ri. zu diesem kleinen Ba uernhof führte an der Baracke vorbei, die einmal unsere Behelfswohnung war. Das gab mir jedes Mal einen Stich und ungute Erinnerungen.
Frau Ri., eine etwas mollige Dame, hatte ihre Hausschneiderei. Aber mit dem Kauf neuer Stoffe für ein neues Kleid konnte die Haushaltskasse auch hier nicht strap aziert werden. So saß ich, wenn die Kinder sich allein beschäftigen konnten, und trennte bereits getragene Kleider auf. Das waren feste Stoffe. Auch verknotete Bindfäden löste ich fein auf, die Herr Dr. Ri. von seinem Amt von dort eingegangenen Paketen mitbrachte.
Die Sparsamkeit an allen Ecken und Enden ist mir in Fleisch und Blut übergegangen und blieb mir Zeit meines Lebens.
Das Schuljahr ging zu Ende und somit meine acht Jahre Schulpflicht. Ob ich noch die zwei Jahre bis zur Mittleren Reife we iter zur Schule gehen wollte, hat mich keiner gefragt. Viel später habe ich das in Abendkursen nachgeholt.
Ins Berufsleben wurde ich geworfen!
Der Geschäftsinhaber, wo Gretel arbeitete, hatte einen Bruder, der im Erzgebirge im Spielzeug-Ort Seiffen ein ähnliches Geschäft betrieb. Dort wurde ich also hingeschickt.
Ich mache es kurz: Vor Heimweh kehrte ich sehr bald dem Ort den
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