Nicht ohne dich
Strümpfe in Beine und Füße. Aber das machte nichts, nein, sogar das war fast angenehm, denn ich war mit Raffi zusammen.
»Nein«, widersprach Raffi, »er ist ein Geschäftsmann. Oh, ich weiß, damals, als wir ihn besuchten, hat er all diese Parolen abgespult. Natürlich habe ich ihn dafür gehasst, er ist wirklich ein Schwein, aber, Jenny, Mama sagt, bei ihm gibt es einen neuen Vorarbeiter, der ist umgänglicher als der letzte, und er plaudert alles Mögliche aus. Es heißt, dein Onkel habe versucht, gleich zu Beginn des Russlandfeldzugs im vergangenen Juni einen Vertrag über Winterkleidung für die Soldaten abzuschließen. Aber der kam nicht zustande, weil Hitler davon ausging, dass die Truppen noch vor Wintereinbruch Moskau eingenommen haben würden. Dein Onkel wusste, dass die Soldaten ohne warme Kleidung erfrieren würden – und dann blieben sie natürlich im Oktober im Schlamm stecken und kamen nicht voran. Na, jedenfalls produzieren sie inzwischen weißen Uniformstoff, damit die Soldaten sich im Schnee tarnen können. Sie kommen gar nicht hinterher mit der Produktion. Schön für Hansen, dass er den Vertrag doch noch bekommen hat. Auch wenn dein Onkel vielleicht meint, dass es sowieso schon zu spät ist. Die Deutschen büßen zu viele Männer ein.«
»Heißt das, wir sind dabei, den Krieg zu verlieren? Die Engländer haben wir auch nicht besiegt.«
Raffi begann mit meiner Hand zu spielen, dann krochen seine Finger unter dem Ärmel meinen Unterarm hinauf. Ich schloss die Augen und konnte an nichts anderes mehr denken als an diese Berührung. Doch er ließ mich los und sagte mit einem Seufzer: »Ich glaube, dass dein Onkel auf Nummer sicher geht. Sollte Hitler den Krieg verlieren, und die Nazis bekommen, was sie verdienen, wird er behaupten, er sei gut zu Juden gewesen. Dass er mich letzte Woche nicht denunziert hat, wird er sich als weitere Feder an den Hut stecken. Vielleicht behandelt er auch seine Arbeiter gut, kann ihm ja schnurz sein. Die jüdischen Arbeiter rackern sich sogar dann noch ab, wenn sie krank sind.«
Ich wusste auch, warum. Jeder, der Schwäche zeigte, landete auf einem der Transporte, die Deutschland verließen – angeblich wurden sie in den Osten umgesiedelt, aber es kursierten auch andere Geschichten. Schreckliche Geschichten, hinter vorgehaltener Hand erzählt. Nein, dachte ich, Raffi und Tante Edith darf nichts passieren.
Raffi hatte ein bisschen von dem gefundenen Geld behalten und bezahlte damit, ehe wir das Lokal verließen. Es hatte zu graupeln begonnen. Er ergriff meine Hand und führte mich in eine kleine Gasse. Dort nahm er meine Tasche und stellte sie ab, um anschließend die Arme um mich zu schlingen.
Nach einer Weile sagte er: »Mein erster Kuss hat dir nicht gefallen. Du hast gesagt, ich müsste mehr üben.«
Ich fragte: »Mit wem hast du denn inzwischen geübt?«
»Mit niemandem«, erklärte er. »Hat es dir jetzt gefallen?«
Ich lachte. »Mir hat es schon beim ersten Mal gefallen, Raffi. Ich wollte es bloß nicht zugeben.«
»Aber jetzt, hat es dir jetzt gefallen?«, fragte er, und es klang ziemlich ängstlich.
»Ja«, entgegnete ich und wir küssten uns erneut. Er schien förmlich zu glühen, als er mich bebend ganz fest an sich zog. Fast hätten meine Knie nachgegeben, und ich hatte das Gefühl, nur noch schmelzendes Zuckerwerk im Körper zu haben.
Doch dann schlugen die Kirchenglocken vier Uhr. Obwohl Tante Edith und Mama nicht wussten, dass wir zusammen unterwegs waren, würden sie sich Sorgen machen, wenn wir nicht bald nach Hause kamen. Wir küssten uns noch ein letztes Mal, machten das nächste Treffen aus – auf der Museumsinsel – und lösten uns dann voneinander. Es tat weh, als würde ich entzweigerissen.
Auf dem Weg zur Tramhaltestelle sagte ich mir ununterbrochen: In zwei Wochen sehe ich ihn wieder.
Dann kamen die Zweifel.
Doch, sagte ich mir erneut. Er und Tante Edith leisten kriegswichtige Arbeit, man wird sie nicht fortschaffen. Aber es funktionierte nicht. Der Schneeregen peitschte mir ins Gesicht und durchnässte meine Handschuhe, bis meine Finger taub wurden. Ich stellte mir vor, wie ich auf der Museumsinsel auf ihn wartete. Und wartete. Und schließlich der schrecklichen Wahrheit ins Auge blicken musste.
Er war tatsächlich da beim nächsten Mal, aber als wir einen Ort gefunden hatten, wo wir uns in Ruhe küssen konnten, brach ich in Tränen aus.
»Was ist denn los?«, fragte er.
Ich wollte es ihm nicht sagen. Deshalb erzählte
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