Nicht ohne dich
Kerl«, flüsterte Raffi, »der wahrscheinlich selbst ein Mädchen hat.«
»Und wenn so was noch mal passiert?«, flüsterte ich zurück und drückte mich zitternd an ihn. »Raffi, du weißt doch, wenn sie uns bei einem Kuss erwischen, bedeutet das dein Todesurteil.« Dann zwang ich mich zu sagen, was ich eigentlich nicht sagen wollte. »Wir dürften das nicht tun, Raffi. Wir müssten uns voneinander fernhalten.«
Nun war es heraus. Vielleicht würde er mir zustimmen, bloß, wie sollte ich damit weiterleben? Ich starrte auf seine Füße und das Kopfsteinpflaster darunter. Mir wurde so eng in der Kehle, dass ich zu ersticken glaubte.
Doch er sagte: »Das kann ich nicht, Jenny. Du vielleicht?«
»Nein«, entgegnete ich mit voller Überzeugung. »Ich auch nicht.«
Es war wohl beim nächsten Mal, als wir uns in einer Seitengasse in der Nähe des Rathauses trafen. Wir küssten uns und Raffi fasste meine Brüste an und streichelte mich so, dass ich auf einmal vor Verlangen nach ihm glühte. Ich sagte: »Raffi! Suchen wir uns einen Park, irgendeinen Ort, wo wir uns hinlegen können und niemand uns sieht.«
»Das bringt nichts«, sagte er. »Wirklich ungestört wären wir nur im Wald. Das ist zum Gehen zu weit, und im Zug würde man unsere Ausweise kontrollieren …« Er packte mich und zog mich ganz eng an sich. »Ich will dich, Jenny«, sagte er. Seine Stimme war vor unerfüllter Sehnsucht wie erstickt. »Ich will dich so sehr.«
Als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten, war mein neues Sommerkleid vollkommen verknittert. Den ganzen Heimweg lang bemühte ich mich, es etwas zu glätten.
Ich klingelte und hoffte, Mama würde nicht fragen, was mit meinem Kleid passiert war. Sie öffnete die Tür, ein Telegramm in der Hand. Ich dachte: Papa. Karl. Mein Mund wurde ganz trocken und mir war übel.
»Mama …«, sagte ich.
»Alles in Ordnung«, erklärte sie rasch. »Karl kommt nach Hause, Jenny. Zu einem Schulungskurs in Frankfurt, und Heimaturlaub bekommt er dann auch.«
Muffi spielte vollkommen verrückt und pinkelte in ihrer Freude über das Wiedersehen mit Karl sogar auf den Boden. Ich stand einfach nur da und traute meinen Augen kaum, bis er mich schließlich auf raue, brüderliche Weise in die Arme schloss. Er war unglaublich braun geworden.
Ich führte ihn in mein Zimmer und zeigte ihm, dass ich all den Wüstensand aus seinen Briefen in einem Einmachglas aufbewahrte. Er lachte. »Freut mich, dass er dir gefällt«, sagte er. Mama kam und blieb in der Zimmertür stehen, weil sie nicht wollte, dass ich ihn entführte. Wir fingen zu kochen an, und während ich die Kartoffeln schälte, saß er auf dem Küchentisch und erzählte.
»Mann, wie ich Kartoffeln vermisst habe!«, sagte er. »Das Essen da draußen ist schrecklich. Wir essen meistens italienisches Büchsenfleisch. ›Alter Mann‹ nennen wir es.« Er zog eine Grimasse. »Wir essen es, weil wir keine andere Wahl haben. Gemüse gibt es nicht, man befürchtet, es würde verderben. Wenn wir eine britische Einheit gefangen nehmen, müssen wir das erbeutete Dosengemüse verwenden, um sie zu verpflegen. Wir verhalten uns den Tommys gegenüber anständig, und darum sind sie auch anständig zu uns. Aber es ist schlimm, dass wir so schlecht ausgerüstet sind. Rommel versucht sie auszutricksen. Einmal hat er ein paar VW Käfer mit Panzerattrappen verkleidet.« Er lachte. »Wenn irgendjemandem was fehlt, rät ihm Rommel, er soll es sich von den Engländern holen.«
»Norbert Mingers ist auch gerade auf Heimaturlaub«, sagte ich. »Aus Russland.«
Karl runzelte die Stirn. »Das sind die Jungs, die die ganzen Vorräte bekommen. Wir sind für die Heeresleitung nur ein Nebenkriegsschauplatz. Mama, ich habe Papa gesehen. Letzte Woche. Er lässt dich ganz lieb grüßen. Das hier soll ich dir geben.« Er reichte ihr einen Brief. Unzensiert. »Und der ist für dich, Jenny. Du bist ja richtig erwachsen geworden, Schwesterchen. Fast hätte ich dich nicht wiedererkannt.«
Ich riss den Brief auf und las ihn schnell. Papa schrieb: Ich hasse diesen Krieg, nicht nur, weil unsere Nation so viel Tod und Leid über andere Völker bringt. Ich hasse ihn auch, weil er mich von Dir, Jenny, und von Mama und Karl entfernt. Ich will bei Euch sein, mit Euch sprechen, sehen, wie Du erwachsen wirst. Aber, mein Schatz, eines sollst Du wissen, was immer Du auch tust, meine Liebe begleitet Dich stets.
Ich vermisste ihn auch so sehr. Ich ging oft ins Wohnzimmer und schaute ihn mir
Weitere Kostenlose Bücher