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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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ich stattdessen etwas anderes, das mich belastete: »Ich vermisse Papa und Karl, und ich mache mir Sorgen um sie. Außerdem fehlt mir Tante Edith. Ich würde sie so gerne mal wieder sehen.«
    »Du fehlst ihr auch«, sagte er. »Und ich vermisse Onkel Dietrich und Karl.«
    Ich zögerte, ehe ich zugab: »Deinen Papa vermisse ich auch.«
    Er senkte den Kopf.
    »Es tut mir leid«, sagte ich.
    Als er den Blick hob und mich ansah, waren seine Augen feucht. »Ist schon gut. Glaubst du, es wäre mir lieber, wenn du ihn vergessen hättest?«
    Wenn ich in der Schule an meinem Pult saß, dachte ich an Raffi. Ich roch den leichten Teergeruch und spürte seine Lippen auf meinen, und den Flaum, der sich seit Neuestem auf seiner Oberlippe zeigte. Er ließ das Bärtchen wachsen, weil Juden keine Rasierseife zugeteilt bekamen, aber es war ganz weich und so hell, dass man es kaum bemerkte. Ich hatte ihn am Sonntag zwischen unseren Treffen noch einmal gesehen, denn Mama hatte mich mit einer Tüte Lebensmittel in die Friedrichstraße geschickt. Das war schön gewesen.
    Während Klotz uns die neue Landkarte des von den Nazis beherrschten Europa erklärte, war ich im Kopf bei Raffi und den neuartigen Wohnungen, die er in seiner knappen Freizeit entwarf.
    »Luft und Licht«, sagte er, »das ist es, was den meisten Berlinern fehlt. O ja, ich weiß, es gibt diese wunderschönen Gebäude in der Siemensstadt, aber die meisten Arbeiter müssen immer noch in rattenverseuchten Mietskasernen wohnen.«
    Ich entgegnete: »Die Nazis haben doch auch Wohnungen gebaut.«
    »Diese mickrigen Schuhschachteln.« Er hatte es herrlich verächtlich herausgespuckt.
    Paula musterte mich und kritzelte dann in ihr Schmierheft: Denkst du gerade an Klaus-Heinrich?
    Ich nickte – schließlich hatte sie fast ins Schwarze getroffen –, und sie bedachte mich mit einem neckisch sentimentalen Blick. Ich grinste zurück.
    Klotz beachtete keine von uns beiden. Ich hätte eigentlich auch gleich von der Schule abgehen können, denn sie brachte mir gar nichts: Die besten Lehrer waren gefeuert worden oder freiwillig gegangen, und wir lernten nur das, was den Nazis für Mädchen angemessen erschien. Sie erzählten uns von Glaube und Schönheit und dass wir uns für arische Männer aufheben mussten – das nahm jetzt, da wir vierzehn waren, zunehmend mehr Raum ein.

Kapitel Zehn
    1942 bis 1943
    A n einem heißen Tag standen Raffi und ich in einer schmalen Gasse und küssten uns. Ich streichelte ihn, tastete seine Rippen, als er plötzlich seine Hand auf meine Brust legte. Ich hielt in der Bewegung inne, und einen Augenblick verharrten wir beide reglos. Dann fanden sich unsere Lippen wieder und ich spürte sein Herz heftig gegen meines pochen. Jetzt waren unsere Küsse anders, leidenschaftlicher als zuvor.
    Da hörten wir schwere Schritte – jemand bog in die Gasse ein und kam auf uns zu. Wir erstarrten, alle beide. Ich blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und sah einen Mann in grüner Uniform, auf dem Kopf einen Tschako mit Adler und Hakenkreuz. Ein Polizist. Ich war aufgelöst vor Panik, doch Raffi zog mich fest an sich und begann mich erneut zu küssen, heftig. Ich erwiderte seinen Kuss, denn ich nahm an, dass Raffi hoffte, dem Mann wäre es peinlich, uns zu stören. Die Schritte kamen näher und wurden langsamer. Ich spürte Raffis Zunge, die mit meiner spielte, unsere Herzen schlugen im Gleichklang, als wären sie eines. Ich klammerte mich an den Gedanken: Raffi ist blond. Doch ich war rothaarig, und manche Leute hielten das für ein jüdisches Merkmal. Das war das Verrückte, das Furchtbare – dass der Polizist uns vielleicht festnehmen würde, weil er Raffi für den Rassenschänder und mich für eine Jüdin hielt.
    Schon war er hinter mir. Ich glaubte zu spüren, wie er uns mit Blicken maß. Gleich würde seine Hand auf meinem Arm sein, um mich aus Raffis Armen zu reißen – da hob Raffi den Kopf, und ich sah ihn grinsen und zwinkern. Er meinte nicht mich, sondern schaute dabei den Polizisten an. Der Mann räusperte sich. Ich war sicher, dass er unsere Ausweise verlangen würde. An Raffi geschmiegt wartete ich reglos darauf, dass das Unheil seinen Lauf nahm.
    Aber dann hörte ich, wie sich die schweren Schritte wieder entfernten. Raffi hatte es wieder einmal geschafft. Ich konnte es kaum glauben, mein Verstand weigerte sich, die Angst abzulegen, doch die Schritte wurden immer leiser, bis sie schließlich verklungen waren.
    »Es war ein junger

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