Nicht ohne dich
abwehrend den Kopf. »Warte, bis wir richtig drinnen sind«, zischte sie.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, berichtete sie: »Ich habe kein Wort aus ihm herausgebracht. Er saß bloß da, den Kopf auf den Knien. Ich habe ihm meine Uhr mit dem beleuchteten Ziffernblatt gegeben – das heißt, ich habe sie neben ihn gelegt und ihn gebeten, um neun das Licht anzumachen, dann würde ich nachschauen, ob man es durch das Gitter sehen kann. Ich habe gesagt, wenn man es sieht, würde ich drei Mal an die Rückwand des Theaters klopfen und er müsste es ausknipsen. Ehrlich, ich weiß nicht einmal, ob er mich gehört hat. Er sah da drinnen aus wie ein Tier im Käfig, Jenny.« Sie verbarg ihr Gesicht einen Moment lang in den Händen. »Nächste Woche hat er Geburtstag. Er wird siebzehn. Siebzehn, eingesperrt in einem stockdunklen Kabuff.«
Ich fühlte mich, als wäre ich mit ihm dort eingeschlossen – bloß war das nicht der Fall, und das war umso schlimmer. Er würde Tag und Nacht alleinda sitzen und über Tante Edith nachgrübeln.
»Jenny, du musst dafür sorgen, dass Raffi nicht den Mut verliert«, beschwor mich Mama. »Er braucht dich, in dem Zustand, in dem er ist.«
Ich nickte. Aber es mussten noch so viele Stunden vergehen, bevor ich zu ihm konnte.
»Jetzt essen wir erst einmal den Haferbrei«, sagte sie. »Ich hoffe bloß, Raffi kriegt wenigstens ein paar Bissen runter.«
Ein Platzregen setzte ein. Ich zog trotzdem Jacke und Regenhut an und ging mit Muffi kurz um den Block. Als ich zurückkam, parkte ein großer Mercedes vor dem Haus. Die Gestapo, war mein erster Gedanke, und mein Mund wurde ganz trocken, doch dann sah ich Brettmann, Onkel Hartmuts Chauffeur, hinter dem Lenkrad sitzen, vertieft in den Völkischen Beobachter . Wenigstens nicht die Gestapo, aber auch nicht viel besser.
Ich bemühte mich, keinen Blick in Richtung Werkstatt zu werfen, als ich daran vorbeiging. »Siebzehn, und eingesperrt wie ein Tier«, hatte Mama gesagt. Es war furchtbar, so etwas durfte einfach nicht sein.
Vor der Eingangstür war eine Pfütze – vielleicht hatte Tante Grete dort ihren Schirm ausgeschüttelt. Ich ermahnte mich, hinauf in die Wohnung zu gehen und höflich zu Onkel Hartmut zu sein. Immerhin hatte er Wort gehalten und mich und Raffi nicht denunziert – und außerdem hatte ich gestern Abend der Gestapo gegenüber seinen Namen erwähnt. Wenn ich mich mit ihm gutstellte, half ich damit Raffi. Als ich die Treppe hinaufstieg, fragte ich mich, was er und Tante Grete wohl hier wollten. Sie kamen gewöhnlich nicht einfach vorbei, sondern nur auf Einladung.
Mama ließ mich herein.
»Tante Grete ist da«, sagte sie mit hochgezogenen Brauen. Onkel Hartmut also nicht, na, das war eine kleine Erleichterung – aber auch meine Tante war noch nie allein vorbeigekommen.
Ich wollte gerade meine nassen Gummistiefel ausziehen, als sie aus dem Wohnzimmer trat. Sie trug ein hässliches lila Kostüm mit schwarzem Samtkragen, dazu einen schwarzen Samthut, den eine riesige schwarze Samtrose zierte.
»Ich hole das Tuch für Muffi«, sagte Mama und verschwand in der Küche. Ich knickste, ganz wohlerzogenes Mädchen, obwohl ich mich dabei wegen der Gummistiefel lächerlich fühlte.
»Onkel Hartmut hat zu tun«, sagte Tante Grete. »Aber ich wollte mal sehen, wie es euch geht.«
Mama kam zurück und kniete sich neben Muffi, um sie trocken zu reiben. Ihr türkisfarbenes Kleid war nichts Besonderes, aber die Farbe stand ihr ausgezeichnet, und es war gut geschnitten und umschmeichelte ihren Körper. Jedenfalls sah sie sehr viel eleganter aus als Tante Grete in dem teuren Kostüm.
Mama sagte: »Tante Grete hat uns feine Sachen mitgebracht, Jenny. Bohnenkaffee und Schokolade, und Kuchen, und leckeren Schinken. Auch eine Tüte Kartoffeln und sogar ein halbes Dutzend Eier!«
Natürlich musste ich mich bei Tante Grete artig bedanken und tat das auch, aber dabei wechselte ich mit Mama einen Blick. Sie schüttelte ganz sacht amüsiert den Kopf. Tante Grete brachte immer Kaffee und Kuchen mit, wenn sie und Onkel Hartmut uns mit einem Besuch beehrten – schließlich ließen sich Bonzen wie sie, die mit den hohen Tieren unter einer Decke steckten, nicht dazu herab, das zwiebackartige, altbackene Brot zu essen und den Getreidekaffee zu trinken, mit dem sich die normalen Leute begnügen mussten. Aber das ganze andere Zeug? Es war wie ein Wunder, jetzt, da wir Raffi zu versorgen hatten. Bloß dass es keine Wunder gab. Sonst wäre
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