Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
stellte sich heraus, dass Oma Halima offenbar jahrelang, vor ihrem Ehemann verborgen, Geld angespart hatte. Jedenfalls fanden sich nach ihrem Tod 50.000 Mark in kleinen Scheinen in einer Kiste unter ihrem Bett. Und so kam es, dass ihre Kinder am Abend ihres Todestages bei uns zu Hause stritten, sich anschrien und prügelten. Jeder wollte den anderen beweisen, dass er derjenige sei, der am meisten trauerte. Ich ging ganz still in mein Zimmer in den ersten Stock. Dort verabschiedete ich mich von meiner Oma und bat sie um Verzeihung dafür, dass ich mich vor ihrer Leiche geekelt hatte. Ich war mir sicher, dass sie mir das nicht übelnahm und dass es ihr dort, wo sie jetzt war, gut ging. Ich fühlte an jenem Abend eine starke Verbindung zu meiner Oma Halima, und das, was sich dort unten im Wohnzimmer abspielte, hatte mit mir und mit ihr nicht das Geringste zu tun.
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Die vielen Gesichter meines Vaters
E s geschah so allmählich, dass wir es kaum bemerkten. Obwohl ich von klein auf daran gewöhnt war, die feinsten Stimmungsschwankungen meines Vaters wie ein Seismograf aufzufangen, kann ich doch erst heute in der Rückschau erkennen, wie es ganz langsam zu der Katastrophe kommen konnte, die unsere Familie eines Tages in die Luft sprengen sollte. Damals achtete ich auf jene Anzeichen, die sich in der Gegenwart entladen konnten, denn im Grunde ging es stets um das tägliche Überleben, auch wenn ich es damals nicht so hätte formulieren können.
Seit ich denken konnte, rauchte mein Vater Marihuana. Er baute die Cannabis-Pflanzen selbst im Garten an, erntete sie im September und breitete sie auf großen »Tepsis« aus, auf diesen typischen, runden Silbertabletts, auf denen normalerweise der arabische Tee in kleinen Gläsern serviert wird. Auf diesem Tablett sortierte mein Vater die Pflanzenteile, schnitt die Stiele von den Blättern, und dann legte er sie auf Zeitungspapier auf dem Wohnzimmerboden zum Trocknen aus. Wir Kinder sortierten die Samen heraus und sammelten sie in kleinen Filmdöschen.
Ich kann nicht sagen, dass der Genuss von Marihuana meinen Vater aggressiv machte. Vielleicht verstärkte er sogar einen Charakterzug, den wir alle sehr an ihm mochten: seine spontanen und immer überraschenden Einfälle, seinen Humor und seine Phantasie.
Erst als er begann, verschiedene Drogen unkontrolliert zusammen zu konsumieren, wurde es schwierig. Es gab Zeiten, in denen er mehr und mehr Alkohol trank, was er nicht vertrug. In Kombination mit Marihuana und später mit Kokain wurde mein Vater zur tickenden Zeitbombe. Nur so kann ich mir erklären, wie aus ihm immer mehr das Monster werden konnte, das sich mir bereits gezeigt hatte, als ich noch ein ganz kleines Kind gewesen war, das Ungeheuer, das mir schreckliche Dinge antat: mich an den Füßen aus dem Fenster hielt zum Beispiel, oder mir die Fußsohlen und den Po so lange peitschte, bis sich die Haut zu lösen begann.
Auf der anderen Seite war da dieser Vater, um den mich alle beneideten. Unsere Kindergeburtstage verwandelte er zu unvergesslichen Ereignissen, spielte den Clown und hatte die tollsten Ideen. Meine Freundinnen waren total begeistert von ihm, und auch ihre Mütter waren fasziniert von ihm. Da blieb so manche gerne noch zu einem Glas Rotwein und unterhielt sich angeregt mit meinem Vater, der eine unfehlbare Gabe hatte, sich auf sein Gegenüber und dessen Stimmung einzustellen. Stets hatte er interessanten Gesprächsstoff auf Lager, denn er engagierte sich für alle möglichen politischen und sozialen Initiativen. Eine Zeit lang war er bei den Grünen aktiv, hatte Aufkleber auf dem Auto wie »Stoppt Kindesmisshandlungen!«, sodass mein Bruder und ich uns immer fragten, wie das alles in seinem Kopf zusammenging, wenn er uns mal wieder verprügelt hatte. Er engagierte sich in einem Verein, der ursprünglich als Hilfsorganisation für die Kinder von Tschernobyl gegründet worden war, inzwischen aber Kinder aus allen möglichen Kriegsgegenden zur Erholung und gegebenenfalls ärztlichen Behandlung nach Deutschland einlud. So landeten drei Schwestern aus Aserbaidschan bei uns, um die ich mich dann kümmern musste, einschließlich der Kopfläuse und der Krätze, die sie zusätzlich mitbrachten. Mit solchen Details konnte sich mein Vater nicht abgeben; er war mehr am »großen Ganzen« interessiert. Und darüber diskutierte er mit den Müttern meiner Klassenkameraden, mit Elkes Freundinnen oder mit den Mitstreiterinnen in den Gruppierungen, für die er sich gerade
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