Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
es so nicht ewig weitergehen konnte. Dass etwas geschehen musste. Dass wir sonst alle irgendwann tot sein würden, nicht nur ich. Mir wurde klar, dass mein Vater mehr und mehr ins Schleudern geriet. Und in diesen Schleuderkurs Richtung Abgrund zog er auch uns so langsam wie unaufhaltsam mit hinein.
Wenn wir nicht irgendwann etwas unternehmen würden. Doch was könnten wir tun?
13
Gefangen
I m Nachhinein gesehen, war dieser Zwischenfall in Manavgat an der türkischen Riviera der Anfang vom Ende. Mir war eines klar geworden: Wenn wir weiterleben wollten, wenn wir irgendwann ein normales Leben führen wollten, dann mussten wir weg von meinem Vater. Oder er musste weg. Mit »wir« meinte ich den Rest der Familie, nämlich Elke, die ich als meine Mutter betrachtete, Mourad, Meli und mich. Sollte er doch Leyla heiraten, wie er es immer wieder im Scherz vorschlug. Sollte er doch an ihr seine Launen auslassen, wozu hatte sie sich in unsere Familie gedrängt?
Es herrschte eine seltsame Stimmung bei uns im Haus. Keiner vertraute dem anderen. War ich in der Küche beschäftigt und hatte ein Messer in der Hand, achtete mein Vater peinlich genau darauf, mir nie den Rücken zuzuwenden. Blitzschnelle Blicke zwischen uns verrieten mir, dass er genau wusste, was ich dachte. Einige Wochen lang war ich geradezu besessen von der Idee, meinen Vater umzubringen. War er aus dem Haus, schmiedeten wir anderen offen Pläne. Und wieder lachten wir dabei. Unser Humor wurde immer schräger, wie verrückte, lachende Zombies heckten wir verwegene Mordphantasien aus.
»Wir könnten ein Boot mieten und weit auf einen See hinausfahren, und ihn dann ins Wasser schubsen. Er kann ja nicht schwimmen! Oh, bitte, Mama, lass uns das tun!«
In einer Kindersendung hatten wir gehört, dass Nüsse, die man zu lange liegen lässt, Blausäure entwickeln. Und so sammelten wir Nüsse und versteckten sie unter unseren Betten, um unseren Vater irgendwann damit zu vergiften.
Außerdem richtete sich in dem Herbst, der auf den Sommer 1995 folgte, meine Wut auch auf Leyla. Meinem Vater konnte ich nichts anhaben, doch sie war das perfekte Opfer. Außerdem verstand es Hamid ausgezeichnet, uns gegeneinander auszuspielen, doch das erkannte ich erst viel später. Eines Tages kam Leyla mit einer Brandwunde am Unterarm nach Hause. Es war unschwer zu erkennen, dass es sich um einen Zigarettenanzünder aus dem Auto gehandelt hatte, man sah es an der kreisrunden Form der Wunde. Mein Vater ging wieder einmal in die Offensive: »Schaut mal«, rief er lachend, »wie blöd die Leyla ist! Hat sich doch selbst mit dem Zigarettenanzünder verbrannt. Wie kann man nur so bescheuert sein.«
Als ich meinen Vater nochmals unter vier Augen danach fragte, gab er mir folgende Erklärung: »Die Leyla will, dass ich sie heirate. Aber ich hab ihr gesagt, dass das nicht geht! Ich hab ja schließlich schon eine Frau, oder? Da hat die blöde Kuh sich selbst das heiße Ding auf den Arm gedrückt. Sie will mich erpressen, verstehst du?«
Das bewirkte natürlich, dass meine Sympathien Leyla gegenüber nicht wuchsen, ganz im Gegenteil. Und eines Tages stellte ich sie zur Rede und machte sie so richtig fertig. Da brach sie zusammen. Unter Tränen enthüllte sie die Wahrheit: Als sie Hamid kennengelernt hatte, hatte er ihr versprochen, sie zu heiraten.
»Er hat gesagt, dass er Elke nicht liebt und nur wegen euch Kindern mit ihr zusammenlebt«, schluchzte sie. »Und dass er nur noch den passenden Zeitpunkt abwarten muss, bis er sich von Elke trennen kann. Dann würde er mich heiraten.«
Leyla hatte ihm geglaubt, so wie ihm stets alle Frauen alles abnahmen. Damals, an jenem Pfingsten 1994, vor rund eineinhalb Jahren also, habe sie sich von ihm in unser Haus locken lassen. Bei dieser Gelegenheit habe er sie vergewaltigt. Als Beweis zeigte sie mir ihr Tagebuch, in dem sie alles eingetragen hatte, ihre Hoffnungen und ihre Verzweiflung, die sich in all diesen Monaten stets abwechselten, wie der Tag auf die Nacht folgt.
Ich erinnerte mich an die blutigen Bettlaken, die mein Vater seinem Cousin Mohamed damals übergeben hatte, erinnerte mich an seine Worte: »Sie war noch Jungfrau, du kannst es bezeugen …« Damals hatte ich nicht verstanden, was er damit meinte. Doch jetzt begann ich es zu ahnen: Normalerweise zeigt der Bräutigam in der Hochzeitsnacht das blutige Laken der Familie als Beweis für die Jungfräulichkeit der Braut. War diese seltsame Situation, in der Hamid seinen Cousin quasi zum
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