Nicht ohne meinen Mops
Koffer auf. Die Logik verstehe ich zwar nicht, wohl aber, dass Chris da ein ganzes Arsenal an professionellem Make-up, an Pinseln, Puder und Quasten hat.
»Donnerwetter!« Ich staune nicht schlecht, als er die einzelnen Etagen im Koffer auseinanderzieht. Zum Vorschein kommen Dutzende verschiedener Rougetöne, weit über 50 unterschiedliche Lidschattenfarben und Pinsel, so weit mein Auge reicht.
»Das ist noch aus meiner Zeit, als ich Stylist werden wollte«, sagt Chris. »Aber dann habe ich entdeckt, dass Pflanzen viel weniger dummes Zeugs quatschen, und bin eben als Florist geendet.« Chris lacht. »Das Puderzeugs wird ja nicht schlecht und ich wusste, dass ich es irgendwann mal brauchen würde.«
»Wow.« Mehr bringe ich nicht heraus. Chris schiebt mich samt Hocker vor das Fenster.
»Im Tageslicht schminkt es sich am besten«, sagt er und stößt den Laden auf. Die Sonne steht schon recht tief. Ich schätze, der Countdown läuft.
»Wie spät ist es denn?« Ich will mich zum Wecker umdrehen, aber Chris hält mein Gesicht mit beiden Händen fest.
»Früh genug«, sagt er. Ich seufze ergeben.
»Augen zu und erst wieder aufmachen, wenn ich den Befehl gebe!«
»Jawohl, Herr Generalfeldmarschall!«
Dann spüre ich weiche Pinsel, die über mein Gesicht streichen. Über die Stirn fliegen. An den Wangen kreisen. Meine Nase betupfen. Ich muss an Marlene Dietrich denken, deren Biografie ich neulich gelesen habe. Sie hat auch immer Stunden in der Maske zugebracht, ob nun vor einem Filmdreh oder vor dem Date mit einem der zahlreichen Verehrer. Und auch sie hatte eine nicht perfekte Nase, die mit hellem und dunklem Puder in Form gemalert wurde. Meine Augenlider flackern, als Chris mit einem schmalen Pinselchen darüber fährt.
»Ganz kurz mal eben Augen auf«, sagt er. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand anders mir Mascara aufträgt und Chris muss ganz schön gegen meine Reflexe ankämpfen.
»Augen wieder zu und Mund leicht öffnen«, befiehlt mein Stylist. Das Lipgloss fühlt sich kühl an und riecht nach Erdbeeren. Das in Kombination mit der Bodylotion allein sollte mich doch zum anbetungs- und anbeißungswürdigen Vamp machen! Ob Marlene seinerzeit auch wie ein Fruchtcocktail duftete oder doch eher nach der Hühnerbrühe, mit der sie regelmäßig Freunde und Familie bekochte?
»Tadaaa!« Chris zieht das Handtuch von meinen Schultern. »Fertig!«
Ich öffne die Augen und blinzele in das immer schwächer werdende Licht.
»Eine Orchidee könnte nicht schöner sein«, meint Chris. Ich gehe zum Spiegel und … stoße einen leisen Schrei aus. Die mich da anschaut, das ist nicht Tanja. Tanja hat Schlupflider und tief liegende Wangenknochen. Tanja hat eine leicht krumme Nase und zu dünne Lippen. Das Mädel im Spiegel aber hat einen perfekt rosigen Teint. Markante Wangenknochen, volle glänzende Lippen und Augen, in denen man versinken könnte.
»Ui.« Schöne Frauen sind ja gerne mal ein bisschen minderbemittelt in der Birne und so ist mein Kommentar angemessen.
»Gefällt es dir?«
Ich blinkere mit den Augen, auf denen grüner Lidschatten in unzähligen Schattierungen prangt, ohne dass ich überschminkt wirke, und schürze die rosa geschminkten Lippen zu einem Kussmund.
»Ui«, sage ich noch einmal. Wie gesagt – je schöner, desto doofer.
Chris nickt selbstgefällig mit dem Kopf. »Du bist schon ein ganz besonderes Pflänzchen, weißt du das?« Ich lächle ihm per Spiegelbild zu und mit einem Mal wird mir ganz warm ums Herz. Eine Kitschwelle droht mich zu überrollen – so wie Chris und Rolf hätte ich mir meine Brüder gewünscht. Sicher, Tante Trude war immer lieb und immer für mich da, und der Käsekuchen war sensationell. Ich konnte jederzeit mit jedem Problem zu ihr kommen und – ganz ehrlich – sie war mir in manchen Momenten näher als meine Freundinnen. Trotzdem habe ich mir oft gewünscht, ich wäre kein Einzelkind. Kein verwaistes Einzelkind. Hätte ich einen Bruder oder eine Schwester gehabt, dann hätten wir die Trauer um die Eltern gemeinsam tragen können. Und Geschichten erzählen, wie sie so waren als Eltern. Alleine und entwurzelt sein ist hart.
Ich habe immer viel mit Tante Trude gesprochen. Schließlich kannte sie meine Eltern länger als ich. Aber sie war eben ›nur‹ die Schwester und nicht das Kind. Welche Werte wollten sie vermitteln? Wie hatten sie sich wirklich kennengelernt? Wovon hatten sie geträumt? Auf all diese Fragen werde ich nie eine wirkliche Antwort bekommen. Doch in
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