Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nicht Totzukriegen

Titel: Nicht Totzukriegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Vaske
Vom Netzwerk:
Bushaltestelle, und dieses Mal sind wir nicht eingestiegen.«
    »Wollen wir was spielen?«, fragt er anschließend gut gelaunt in die Runde. Die Seniorengruppe reagiert mäßig begeistert, nur das Geburtstagskind zeigt sich erstaunlich unternehmungslustig: »Ja,
Reise nach Jerusalem

    »Klar, Frau Burckhardt«, witzelt der Pfleger, »kein Problem. Und dann ne Runde Bockspringen.«
    »Aber wieso denn nicht?«, fragt Frau Burckhardt nach, »trauen Sie uns das nicht zu?«
    »Dafür seid ihr zu alt«, erwidert der Betreuer fürsorglich, »das ist viel zu anstrengend für euch.«
    Sofort regt sich Widerspruch.
    »Wir zu alt? Nein. Das hätte er wohl gerne.«
    »Was erlaubt er sich? Wir sind doch noch beweglich.«
    »Ich hab das letzten Sommer noch gespielt. Mit meiner Mutter.«
    Die Augen des Pflegers werden groß, und sein Lächeln verschwindet, missmutig schiebt er die Unterlippe vor. Ihm dämmert, dass er verloren hat. »Es gibt doch so viele schöne Spiele, wie wär’s mit
Bingo
? Oder
Mensch ärgere dich nicht

    »Wollen wir nicht. Wir wollen
Reise nach Jerusalem

    »Genau.«
    »Was wollen wir?«
    »Das willst du auch, Renate.«
    »
Reise nach Jerusalem
geht nicht«, verkündet er, doch da hat er die Rechnung ohne seine Senioren gemacht! Die alten Herrschaften rebellieren.
    Mir gegenüber schiebt ein drahtiger Greis im Trainingsanzug seine Kaffeetasse näher und näher an die Tischkante, bis sie schließlich klirrend auf dem Boden zerschellt: »Oh, runtergefallen …« Ein zweiter Senior greift sich an den Brustkorb: »Mein Herz …!« Er spielt den Anfall mit so großartiger Theatralik, dass ihm die weibliche Pflegekraft bereits zu Hilfe eilt. Und Frau Drechsler wendet sich an mich, mit Leidensmiene klagt sie den Pfleger an: »Der Mann schlägt mich!«
    Frau Burckhardt beharrt einfach weiter auf ihrer Idee: »Wir wollen
Reise nach Jerusalem
. Ich wünsche mir das zum Geburtstag.« Die anderen steigen darauf ein: »Rei-se nach Je-ru-sa-lem! Rei-se nach Je-ru-sa-lem! Rei-se nach Je-ru-sa-lem!«, skandieren sie.
    Der Pfleger gibt sich geschlagen: »Gut, wenn Frau Burckhardt sich das wünscht …« Leise seufzend fügt er an: »Wenn das mal gutgeht …«
    Wenig später stehen sieben Stühle im Kreis, in deren Mitte sich zur Vorsicht der Pfleger positioniert hat, falls etwas passieren sollte. Drumherum haben die Senioren Aufstellung genommen, zwei von ihnen mit Gehstütze, und nachdem sie zwischenzeitlich ein weiteres Mal versucht hatte abzuhauen, ist auch Frau Drechsler mit ihrem Rollator wieder dabei. Ich würde gern Tante Hilde helfen, aber die ist überzeugt, sie schafft das alleine. Stattdessen stütze ich den drahtigen Herrn im Trainingsanzug, der zu gebrechlich ist, um sich allein auf den Beinen zu halten. Mitmachen will er aber trotzdem.
    Jetzt möchten die Teilnehmer aber auch, dass die Reise losgeht.
    »Ich bin so weit.«
    »Jerusalem? Da muss ich aber eine zweite Unterhose mitnehmen.«
    »Warum stehen wir hier?«
    »Wann kommt der Bus?«
    Mit der Fernbedienung schaltet der Pfleger die Musik ein, und ganz allmählich setzt der Treck sich in Bewegung, das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
    »Du musst gehen, Herbert.«
    »Ich geh ja.«
    »Seh ich doch: Tust du nicht!«
    »Ist denn schon Musik?«
    »So sind wir damals vor dem Russen geflüchtet.«
    »Ich kann nicht mehr, sind wir bald da?«
    »Was ist denn das Ziel?«
    Die Musik bricht ab, und die Senioren stürzen sich auf die Stühle, also, zumindest stürzen sie. Frau Drechsler setzt ihren Rollator als Waffe ein und räumt den Herrn vor ihr rücksichtslos aus dem Weg. Mein Begleiter lässt sich dort fallen, wo er gerade steht, wohl darauf vertrauend, dass ihm schon rechtzeitig jemand einen Stuhl unterschieben wird. Ich habe Mühe, ihn festzuhalten. Das Geburtstagskind bewegt sich erst gar nicht zu einem der Stühle, nein, es zieht einfach einen Stuhl zu sich heran. Auf dem wollte allerdings auch Tante Hilde Platz nehmen, die nun ins Nichts fällt; der Pfleger kann sie gerade noch rechtzeitig auffangen, wird aber von ihr mit umgerissen, er liegt zuunterst, sie fällt mit ihrem ganzen Gewicht auf seinen Bauch. Während ich Tante Hilde wieder hochhelfe, die vor Vergnügen gluckst, liegt er auf dem Boden und krümmt sich vor Schmerzen.
    Der Pfleger steht ächzend wieder auf, wir schauen uns gegenseitig an: Uns beide hatte die nackte Panik befallen, ich sah Tante Hilde schon mit Trümmerbruch im Krankenhaus liegen. Es grenzt an ein Wunder, dass nichts

Weitere Kostenlose Bücher