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Nicht Totzukriegen

Titel: Nicht Totzukriegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Vaske
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passiert ist.
    Nachdem er sich von seinen Schmerzen wieder erholt hat, bekommt der Pfleger auch seine Kundschaft wieder in den Griff.
    »Okay«, ruft er und klatscht dabei auffordernd in die Hände, »nächste Runde!«
    »Och nö.«
    »Die erste Runde ist vorbei?«
    »Sklaventreiber.«
    »Mein Ischias!«
    So ist das: Wenn der Pfleger will, wollen sie nicht. Die Senioren haben genug, sie möchten sich ausruhen, und sie haben Hunger. Geschafft. Verletzte sind nicht zu beklagen, alle haben das Spiel heil überstanden. Ich setze mich zu Tante Hilde. »Hach, das hat Spaß gemacht«, freut sie sich. Frau Drechsler pflichtet ihr bei: »Und der Flegel meint, wir könnten das nicht mehr!«
    »Ist Ihnen was passiert?«, frage ich besorgt den Pfleger, der seine lädierte Hüfte abtastet.
    »Halb so wild. War doch lustig. Ich mach alles mit, solange sie nicht Strip-Poker spielen.«
    Die Tische werden fürs Abendessen eingedeckt, kurz danach fährt der angebliche Flegel putzmunter mit seinem Wägelchen herum und verteilt an seine Schützlinge Pillen und Tabletten.
    »Leckerlis«, ruft er. Er sortiert die Medikamente sorgfältig und füllt sie jedem der Senioren in den Pillenbehälter. Für Frau Drechsler öffnet er ein braunes Fläschchen mit Tabletten.
    »Wollen sie mich vergiften?«, faucht Frau Drechsler, als er ihr endlich ihre Ration neben den Teller legt.
    »Ja, Frau Drechsler, wissen Sie doch, wie jeden Abend«, antwortet der Pfleger mit freundlichem Sanftmut, er schraubt das braune Fläschchen wieder zu und stellt es ins Seitenfach des Medikamentenwagens. Währenddessen gibt er Frau Drechsler genaueste Anweisungen, wie sie die Tabletten zu nehmen hat. Und weil ich grad nix Besseres zu tun habe, schaue ich, was auf dem Fläschchen draufsteht.
    Nor-glu-con! Und gleich als Klinikpackung, ich tippe mal, genug für viele, viele Toms. In Tabletten wird es also verabreicht, interessant, bisher war ich davon ausgegangen, es wären Tropfen! Wieder was gelernt.
    Während ich völlig fasziniert die Flasche anstarre, stellt der Pfleger auch meiner Tante ihren persönlichen Pharmacocktail zusammen, er erklärt mir in aller Ausführlichkeit, welche Pille sie wozu zu nehmen hat: nach dem Essen, vor dem Essen, ganz weit hinten in den Hals … Wer soll sich das alles merken? Ich höre dem Pfleger sowieso nicht zu, denn … es wäre nur eine kleine Bewegung, ich müsste nur in einem günstigen Augenblick zugreifen und die Flasche einstecken, und schon hätte ich alles, was ich brauche, um Tom an Jerusalem vorbei über den Jordan zu bringen. Es wäre so einfach!
    Der Pfleger schiebt mit seinem Medikamentenwagen ab Richtung Personalbereich. Vorbei die Chance, ich könnte mich schwarzärgern. Warum bist du nur so feige, Nicole?
    Nach dem Abendessen begleite ich Tante Hilde in ihr kleines Apartment, und wir plaudern ein wenig. Ihr Zimmer hat einen Balkon, es bietet einen schönen Blick ins Grüne. Es tut gut zu sehen, dass sie sich wohl fühlt, und ich kann ihr endlich mein Herz ausschütten, dass es mit Tom gerade schwierig ist, er zu viel arbeitet und wir uns nicht mehr so gut verstehen. Und nebenbei überlege ich, wie ich doch noch an das Medikament kommen könnte, um ihn aus dem Weg zu räumen.
    Als Tante Hilde müde ist, verabschiede ich mich von ihr, ich umarme sie und verspreche, bald wiederzukommen. Auf dem Weg zum Ausgang begegnet mir nett schmunzelnd wieder mein Freund, der Pfleger. Er kommt aus einem Zimmer, auf dessen Tür groß »Personal« steht. Ich grüße zum Abschied und warte, bis er um die Ecke verschwunden ist, dann öffne ich die Tür und werfe neugierig einen Blick hinein.
    Die Küche für die Mitarbeiter. Tatsächlich steht dort auch der Tablettenwagen, komplett bestückt. Wenn das kein Wink des Schicksals ist! Mein Herz schlägt schneller, ich sehe mich vorsichtig um und lausche nach Schritten auf dem Gang, dann schleiche ich mich hinein und schnappe mir das Fläschchen Norglucon. Ein gutes Dutzend der Tabletten purzelt in meine Hand. Sind so viele überhaupt nötig? Ein paar gebe ich zurück ins Fläschchen, dann schraube ich es zu und stelle es zurück an seinen Platz. Bevor ich mich verdrücke, schau ich mich noch schnell um, öffne den Medikamentenschrank: Brauch ich noch was? Antidepressiva vielleicht, Beta-Blocker oder irgendwas gegen Fußpilz? Hämorrhoidensalbe? Soll gut sein gegen die lästigen Fältchen rund um die Augen. Ich habe die volle Auswahl! Was in diesem kleinen Raum an Drogen herumsteht, dürfte

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