Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
neugieriges Kind, und es gab bei uns keine wirklich abgeschlossenen Räume oder Ecken, an die ich nie ran durfte. War dann plötzlich eine Schranktür doch abgesperrt, war das sehr auffällig.
An einem Nikolausmorgen, ich war vier Jahre alt, habe ich meine Mutter morgens gegen sieben Uhr geweckt, indem ich aus meinem Zimmer gerannt und in ihr Bett gestürzt bin. Der Nikolaus sei noch gar nicht dagewesen, beschwerte ich mich. Meine Mutter hat ein bisschen mit mir herumgealbert und dann versprochen, nach ihm zu schauen. Während ich mich unter der Decke versteckte, war sie verschwunden. Minuten später stand plötzlich eine Rute mit allerlei Süßigkeiten im Zimmer. Ruten gefielen mir viel besser als Schokomänner, sie erinnerten an Hexenbesen und an Zauberei. Angst hatte ich nicht, ich konnte mir nicht vorstellen, dass die dünnen Zweige wehtun könnten. Aber ich ahnte natürlich, dass zwischen dem Verschwinden meiner Mutter und dem Auftauchen der Rute ein nicht besonders mystischer Zusammenhang bestand. Trotzdem war ich nicht enttäuscht und habe viele Jahre Milch für das Pferd vom Nikolaus in den Flur neben die Schuhe gestellt. Mir haben solche Spiele Spaß gemacht.
Niemand kann Geschenke so einpacken wie meine Mutter. Auch damit hätte sie sich übrigens sofort verraten, denn ihre Geschenke sind unverwechselbar. Meine Mutter nimmt mit Vorliebe sauber gefaltete Servietten mit besonderen Blumenmustern als Geschenkpapier. Manchmal hat sie auch einen silbernen Bindfaden oder ein Paketband darum gewickelt. Nie benutzt sie Tesafilm oder normales Geschenkband. Manchmal erkannte ich das Geschenkpapier von einer besonders schönen Schokoladenverpackung oder aus einem der Päckchen wieder, die uns meine Tante Ingrid früher öfter schickte. Ingrid hatte eine besondere Gabe, Geschenke zu machen. In ihren Päckchen fanden wir immer riesige Lakritzstangen, die wir in Berlin nicht bekommen konnten. Wir lieben Lakritz, meine Mutter mag das richtig bittere ohne Zucker, ich eher das süße oder saure. Meine Mutter mischt die harten Lakritze mit den Pfefferminzbonbons von Aldi, die sie auch immer in der Tasche hat, dann nimmt das Lakritz den Geschmack von Pfefferminz an. So ein Glas mit Lakritz und Minze steht immer noch in ihrem Bücherregal.
Natürlich ist es mir irgendwann aufgefallen, dass vor allem auf der Oberschule die Geschenke im Nikolausstiefel meiner Mitschüler mein Jahresgeschenkkontingent an finanziellem Wert spielend überstiegen. Manchmal habe ich andere darum beneidet. Gesagt hätte ich es nie. Fragte mich jemand, was ich bekommen habe, sprach ich sofort von dem »Wunschbuch«, das ich endlich erhalten hätte. Ideelle Werte konnten mit teuren Geschenken mithalten. Und dann bin ich nach ein paar erklärenden Sätzen, ganz nach meiner altbewährten Taktik, still geworden und habe die Aufmerksamkeit auf jemand anderen und seine Geschenke gelenkt. Am nächsten Tag war das Thema vergessen.
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Während Nikolaus und Geburtstage immer unbedeutender in unserem Familienleben wurden, haben sich die Weihnachtstraditionen weiterentwickelt: Meine Mutter hat immer schon Kiefernzweige gekauft, die wir in einer großen Vase, zum Beispiel einem Gurkenglas, aufgestellt haben. Einen Baum lehnte sie ab. Es kann sein, dass sie das aus Überzeugung und nicht wegen des Geldes getan hat. Auf jeden Fall habe ich mich schnell gefügt. Bei uns gab es eben Kiefernzweige, weil meine Mutter das so wollte. Der Strauß mit den Zweigen stand auf der braunen großen Kommode oder auf dem Boden im Mama-Wohn-Schlafzimmer. Dann holte meine Mutter eine Schachtel mit hellblauen und lila Glaskugeln hervor. Die Kugeln und die Zweige waren unser ganzer Weihnachtsschmuck. Mal kam ein Strohstern dazu, etwas, das an irgendeinem Geschenk drangehangen hatte, oder ein ausgeschnittener Stern aus Silberpapier. Einige Jahre haben wir Lametta in die Zweige gehängt.
Irgendwann wollte meine Mutter gern eine Krippe haben. Es hat Jahre gedauert, bis wir sie vollständig beisammen hatten: erst Joseph und Maria, das Jesuskind kam im zweiten Jahr dazu und noch später die Heiligen Drei Könige. Zwischen meinen Spielsachen fanden wir noch zwei Plastikziegen und einen Esel. Die Figuren haben wir andächtig aufgebaut und dann las meine Mutter die Weihnachtsgeschichte. Aber einen festen Ablauf für den Heiligen Abend oder ein bestimmtes Weihnachtsessen gab es bei uns nie.
Als ich klein war, hat mich unsere Traditionslosigkeit nicht gestört, später fühlte ich mich
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