Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
hängen einem Lutscher und Blumen um den Hals. Nach alter Tradition gehen die Abiturienten siebenmal um die Statue des schwedischen Generals Magnus Stenbock, der 1710 im Nordischen Krieg die Dänen in die Flucht geschlagen hat. Schaut man über den Öresund, kann man von hier aus die ehemaligen Feinde und heutigen Nachbarn in Helsingør sehen.
Nachmittags lädt man Klassenkameraden, Freunde, Bekannte und Verwandte zu sich nach Hause ein, es gibt Kaffee und Kuchen und Geschenke. Abends gehen die Abiturienten aus. Auch das ist Tradition. In Schweden braucht man für das Abitur mindestens drei Outfits: Ein weißes für den großen Tag, ein schickes für den Abend und ein Ballkleid für den Abiball.
Für mich war dieser Tag ein trauriger Tag. Schon in der Schule habe ich geweint, als alle anderen noch gesungen haben. Ich habe mich so verloren gefühlt. Von mir würde keiner ein Kinderfoto hochhalten. Keiner meiner alten Freunde würde da sein, auch meine Eltern würden nicht auf mich warten. Später habe ich mich geschämt, weil Barbara Persson natürlich doch ein Plakat für mich gebastelt hatte, als sei ich ihre Tochter. Und, anders als gedacht: Mein Vater kam, zwar zu spät, wie so oft, aber er kam. Meine Mutter hätte sich unwohl gefühlt unter so vielen Menschen, ein Hotel hätte sie sich ohnehin nicht leisten können und die Reise auch nicht. Dass mein Vater sich dann allerdings endlos bei Barbara Persson bedankte – als habe sie ihm einen Gefallen getan –, war mir damals sehr peinlich. Schließlich war alles, was ich in Schweden erlebte, eine Angelegenheit, von der ich meine Eltern schon lange ausgeschlossen hatte.
*
Meine beiden letzten Sommer in Schweden habe ich als Reiseleiterin für deutsche Touristen gearbeitet. Das war mein erster richtiger Job. Der Lohn war verhältnismäßig gut, weil die Tage lang waren. Die Busfahrer boten uns an, dass wir sie auch auf anderen Touren begleiten könnten, an die Côte d’Azur beispielsweise. Wir hätten dann als Gegenleistung in den Reisepausen den kleinen Würstchenkocher und die Kaffemaschine hinten im Bus bedienen können. Viele Busfahrer fuhren für unterschiedliche Anbieter immer wieder die gleichen Touren. Sie waren meistens nett, nicht aufdringlich und freuten sich über Gesellschaft. Nach Feierabend tranken sie gern ein Bierchen und einen Kurzen aus dem Kühlfach neben dem Fahrersitz mit uns und witzelten über eine Heidi Klum, die gerade anfing, im deutschen Fernsehen für Aufsehen zu sorgen.
Für mich war alles an dieser Arbeit neu und aufregend und so überlegte ich ernsthaft, ob ich mich einem Busfahrer nach dem Sommer anschließen sollte. Ich wollte doch so gern reisen, an warme Orte ziehen. Aber ich war unsicher, ob das gutgehen würde, und wollte auch keine Zeit verschwenden. Ich stand vor der Entscheidung, zu jobben und um die Welt zu fahren oder zu studieren. »Ich werde das später alles noch sehen können«, dachte ich mir, als ich einige Monate danach zögernd die Visitenkarte zurück in mein Kramkästchen legte. Manchmal bereue ich es, dass ich nicht den Mut hatte, einfach loszufahren.
Die Berufsberaterin in Helsingborg hatte mir einen Studiengang herausgesucht, den ich gern belegt hätte. Ich wollte überhaupt nicht zurück nach Deutschland. Aber ich hatte nicht genug Geld, und die deutschen BAföG-Bestimmungen sehen nicht vor, dass man sein Studium im Ausland beginnt. In Schweden und Dänemark können die Studenten studieren, wo und solange sie möchten. Sie bekommen jeder, unabhängig vom Gehalt der Eltern, einen Studienbeitrag, den sie sich selbst einteilen müssen. Aber auf Leistungen vom schwedischen Staat hatte ich kein Anrecht. Auch hätte ich für die Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung nachweisen müssen, dass ich allein für meinen Lebensunterhalt aufkommen kann. Es half nichts: Ich musste zurück. Mein Traumfach gab es nicht in der gleichen Form in Deutschland. Kulturmanagement in Lüneburg kam ihm am nächsten. Aber dort traute ich mich nicht, mich zu bewerben. Das Fach hatte damals einen Numerus clausus von 1,0.
Im September 1999 kam ich zurück nach Berlin. Im Oktober habe ich mein Studium angefangen. Ich hatte jemanden auf der Internationalen Funkausstellung kennengelernt, der mir von Publizistik vorschwärmte. Das klang nach einer passenden Mischung aus Medien und Kultur. Ich konnte zwar auch hier nicht den Numerus clausus erfüllen, aber nach meinen Terminen bei der Studienberatung und der Fachschaft wusste ich,
Weitere Kostenlose Bücher