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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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wie ich den Quereinstieg hinkriegen könnte. Ich schrieb mich für die NC-freien Fächer Skandinavistik, Evangelische Theologie und Musikwissenschaften ein.

KAPITEL SIEBZEHN
    Schampus oder Shampoo
    Erzählt von dem Scheitern einer klassenübergreifenden Freundschaft und von den vielen verschiedenen Bedeutungen der Aussage »Ich habe kein Geld«.
    In meinem Leben spielt der Satz »Ich habe kein Geld« leider noch immer eine große Rolle – sowohl in meinem Denken wie in dem meiner Familie. Meine Mutter drückt das allerdings anders aus: »Wir müssen haushalten.« Sie macht aus der Not eine Tugend. Das ändert aber nichts daran, dass sich unsere Gespräche immer noch allzu oft darum drehen, wo die Tomaten am billigsten sind, dass das Sortiment bei Reichelt oder Aldi um die Ecke in den letzten Jahren schlechter, wenngleich teurer geworden ist oder wer von uns gerade genug Kleingeld hat, um die Fahrkarte für den anderen zu bezahlen.
    Der Satz »Wir haben nicht viel Geld« war für mich auf eine andere Art normal, als viele sich das vorstellen können. Es hieß, dass bestimmte Dinge nicht möglich waren, nicht gekauft werden konnten und dass man sich manchmal entscheiden musste, wo andere nichts entscheiden mussten. Entweder eine neue Winterjacke oder endlich ein Mixer für die Küche. Entweder eine Hose oder einmal ins Theater. Entweder eine neue Schuhsohle oder ein Shampoo.
    Für meinen Vater ist »kein Geld« ein Grund, gleich zu Hause zu bleiben. Er verschiebt die ihm angeratene Wassertherapie jedes Quartal wieder, obwohl sie seinem Körper guttun würde. Er geht auch dann nicht aus dem Haus, wenn er sich nach dem Einkaufen keinen Kaffee gönnen kann. Das Sitzen an der Imbissbude mit einem »Käffchen«, einer Zigarette und vielleicht sogar einem Stückchen Kuchen ist für ihn der Moment, mit dem er am sozialen Leben teilnehmen kann. Und der ist ihm wichtig. Kann er ihn sich nicht leisten, ist er frustriert. Und dabei sind Imbissbuden eine billigere Möglichkeit der Teilhabe als ein Besuch in einem Bistro und Restaurant. Kino oder Theater kann er doch ohnehin nicht bezahlen. Diskos und Tanzveranstaltungen, um vielleicht noch einmal jemanden kennenzulernen, waren vorher schon wegen des Geldes und sind jetzt endgültig wegen des Rollstuhls abgeschrieben. Bleibt also das Bedürfnis, für eine kleine Weile einer von all den anderen zu sein, während man neben der Einkaufstüte Kaffee und Zigarette genießt. Aber die kleinen Summen, die selbst das kostet, addieren sich viel zu schnell zu einem Betrag, den mein Vater sich, streng genommen, nicht erlauben dürfte. Und natürlich kommen die Zigaretten noch dazu. Aber die sind auch für ihn seit Jahrzehnten schon »der einzige Luxus, den ich mir gönne«. Verständnis wird er dafür kaum finden. Bei »Verlierern« wird »die Sucht« schnell zum Symptom sämtlicher Charakterschwächen erklärt.
    Aber letztlich geht es bei »kein Geld« gar nicht ums Geld, sondern um Mobilität, Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, um Identität und Selbstbewusstsein. Das habe ich am deutlichsten zu spüren bekommen, als meine Mutter nach erfolgloser Wohnungssuche etwas getan hat, an das ich bis heute nur mit Schamröte denken kann. Nachdem ich längst ausgezogen war, wollte sie in eine kleinere Wohnung umziehen. Doch mit ihrem Hartz-IV-Bescheid kassierte sie lauter Absagen. In ihrer Verzweiflung sah sie nur noch die Möglichkeit, einer Genossenschaft beizutreten, um endlich an eine Wohnung zu kommen. Doch für die Mitgliedschaft muss man eine größere Summe einzahlen, die meine Mutter sich unmöglich absparen konnte, oder einen Bürgen vorweisen können. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an den Vater einer meiner Freundinnen. Ohne mir vorher etwas davon zu sagen, schrieb sie ihm einen Brief und fragte ihn, ob er für sie bürgen würde. Daraufhin schrieb der Vater mir einen Brief. So peinlich berührt und so wütend zugleich war ich vorher noch nie gewesen. Ich war sauer auf meine Mutter, dass sie hinter meinem Rücken die Eltern meiner Freunde um Hilfe bat. Und dann rief er mich auch noch an, um mir zu sagen, dass er schon willens sei, meiner Mutter zu helfen, ich müsse ihm allerdings garantieren, dass ich die Bürgschaft übernehmen würde, sobald ich mein Studium beendet hätte, und außerdem wollte er wissen, wie viel ich glaubte, dann verdienen zu können. Ich sagte ihm, er solle den Brief meiner Mutter vergessen. Das Ganze sei ein Missverständnis gewesen. Im Übrigen

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