Nichts als Erlösung
staubig und warm, hört die Stadt wie ein Wispern. Sie denkt an den Regen und an ihre Träume. Sie denkt, dass nichts ohne Risiko ist, gar nichts. Man kann immer verlieren, jeden Tag, jede Sekunde, und je mehr man liebt und sich auf etwas einlässt, desto mehr. Aber es gibt keine Alternative, trotzdem nicht. Nicht für sie jedenfalls, nicht für ihr Leben.
Dein Fall, Judith, hat Millstatt gesagt, als sie mit ihm vor dem toten Jonas stand. Sie läuft zurück ins Wohnzimmer und bucht ihren Flug, während sie seine Nummer wählt, erklärt seinem Anrufbeantworter, was sie vorhat, und verspricht sich zu melden, sobald sie weiß, ob Lea wirklich etwas gefunden hat, das relevant für die Ermittlungen ist.
Sie lacht, als sie zwei Stunden später in ihrer Ente zum Flughafen fährt. Eine Fahrt durch die Nacht, mit weit offenem Verdeck. Foreigner singen wieder, und sie ist frei, fast wie früher, nur dass sie trotzdem im Rückspiegel prüft, ob ihr jemand folgt. Aber da ist niemand, nicht auf der Autobahn und nicht im Flughafenparkhaus, und auch nicht, als sie in einem Pulk übermüdeter Urlauber über die Gangway ins Flugzeug geht.
5. Teil
ERLÖSUNG
Um Miriam tat es mir beinahe leid. Jahre hatten ihre Eltern gebraucht, ihr das Lächeln abzugewöhnen. Heimkinder anlächeln, sogar mit ihnen reden und spielen wollen, das wurde im Hause Vollenweider nicht geduldet. Aber Miriam hatte Mühe, das einzusehen. Anfangs zumindest. Doch je älter sie wurde, desto mehr fruchtete die Dressur ihrer Eltern, desto stummer wurde sie. Und dennoch rief sie meinen Namen, als sie in ihrer Panik die Treppe herabstürzte. Meinen Namen, Rudi, nicht meine Nummer. Vielleicht gab ich ihr deshalb ein eigenes Grab.
Du willst wissen, ob ein anderer Weg für mich möglich gewesen wäre? Einmal habe ich das tatsächlich geglaubt. 1981, als ich Susanne kennenlernte. Ich habe sie geliebt, ehrlich geliebt. Ich habe wirklich geglaubt, mit ihr zusammen würde alles gut. Ich fand einen Beruf, bei dem ich meine bei der Bundeswehr erworbenen Fähigkeiten einsetzen konnte. Anständig. Bürgerlich. Anerkannt. Wir heirateten und bekamen unseren Sohn. Ein gutes Leben, dachte ich. Ein Leben nach eigenen Maßstäben, endlich auch für mich. Ich habe wirklich geglaubt, das würde funktionieren. Aber der Wille allein reicht nicht aus, der Sog der Vergangenheit ist viel zu stark. Kindesmisshandlung warf Susanne mir vor. Und das Gericht gab ihr recht. Sie bekam das alleinige Sorgerecht. Da wusste ich, dass ich verloren hatte. Dass es keine Familie für mich geben würde, nie. Kein Heim. Kein Entkommen. Das konnte ich den Vollenweiders nicht verzeihen. Und deshalb werde ich diesen Weg nun auch bis zum bitteren Ende gehen.
Ich bin traurig. Trotzdem. Uns bleibt nur noch so wenig Zeit. Gestern habe ich zum letzten Mal die Kerzen vor Deinem Bild entzündet und Dir noch einmal frische Rosen gebracht. Du siehst ihr so ähnlich, viel mehr als Susanne. Das gibt mir Hoffnung. Ich will Dir vertrauen.
Sonntag, 9. August
Er erwacht mit einem unguten Gefühl, und die Tatsache, dass zwischen seiner spätnächtlichen Rückkehr aus der hessischen Walachei und dem Gefiepe seines Weckers nur viereinhalb Stunden liegen, verbessert seine Laune nicht wirklich. Manni quält sich hoch und steigt in seine Joggingklamotten. Der erste Kilometer ist eine einzige Viecherei, danach fügt sich sein Körper allmählich, und sein Hirn schaltet in den Arbeitsmodus, fängt wie von selbst an, die gestrigen Ergebnisse zu rekapitulieren. Bevor er sich auf den Heimweg machte, haben sie die dritte Leiche aus dem Steiner Wald anhand der Zähne eindeutig identifiziert. Es ist Miriam Vollenweider. Sie haben auch ihr goldenes Herz und kennen ihren Liebhaber. Doch sie wissen noch immer nicht, ob Miriam durch einen Unfall starb oder erschlagen wurde, und es ist nicht mehr nachvollziehbar, wann sie starb und begraben wurde. Und was den Täter angeht, haben sie genau genommen gar nichts, außer ein paar höchst spekulativen biografischen Bruchstücken. Es ist fast so, als stehe der Mann, den sie suchen, hinter einem venezianischen Spiegel: Er kann sie sehen, aber sie ihn nicht.
Manni erreicht seinen Wendepunkt, macht ein paar Dehnübungen und sprintet zurück. Etwas nagt an ihm, immer noch, stärker sogar als gestern. Etwas, das sie begreifen müssen, um diesen Täter zu fassen. Er duscht, zieht sich an, kauft sich auf dem Weg ins Präsidium ein Brötchen, das nach Sägemehl schmeckt, aber immerhin seinen
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