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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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sicherstellen konnten, immerhin einen Beweis seiner Existenz. Er lehnt sich in den Türrahmen und stellt sich Miriam vor. Miriam im Nachthemd mit dem goldenen Herz um den Hals, das sie nur heimlich trägt, wenn ihre Eltern schon schlafen. Miriam an ihrem Schreibtisch über ihre Psychologiebücher gebeugt. Miriam, wie sie den Kopf hebt und das Foto vom Kinderheim Frohsinn betrachtet und versucht zu begreifen, was sie dort erlebt hat. Oder hat gar nicht sie dieses Foto aufgestellt, sondern ihr Mörder? Ist das Heimfoto auf Miriams Schreibtisch ein weiteres Puzzleteil dieser perfiden Schnitzeljagd, die er mit ihnen spielt?
    Wenn man etwas sucht, findet man nicht immer das, was man erwartet. Ekaterinas Worte. Wieder, schon wieder. Manni geht in die Hocke und betrachtet das Foto. Frohsinn hatten die Nazivorgänger der Vollenweiders das Heim genannt. Was für ein bodenloser Zynismus, wenn man an die Kinder denkt, die sie einfach im Heimgarten verscharrt hatten, weil sie sie so wertlos fanden, dass nicht einmal ein Grabstein an sie erinnern durfte. Und dann war der Krieg vorbei und verloren und Hitler tot, aber der Nazigeist wehte weiter durchs Heim. Drill und Härte und blinder Gehorsam. Im Haus Frohsinn genauso wie in den 3000 anderen Heimen, die es in der Nachkriegszeit allein in Westdeutschland gab. Verwahranstalten für rund eine Million Kinder.
    Zahlen jagen ihm durchs Hirn, Fakten. Bilder, die er in den letzten Tagen betrachtet hat: Schwarz-Weiß-Fotos von mageren Heimkindern mit blassen Gesichtern, die kein bisschen kindlich aussehen. Doch das hilft ihm nicht weiter. Die meisten dieser Kinder haben zwar auch nach ihrer Heimzeit gelitten, aber sie haben ihre Leben dennoch gelebt, ohne zu Verbrechern zu werden. Und selbst Rudi, die M 417, der Mörder, den sie suchen, war einmal glücklich gewesen, hoffnungsfroh und verliebt, wenn man Kurt Böhms Worten glauben darf.
    Manni blättert in den Psychologiebüchern, die auf Miriams Schreibtisch liegen. Hatte sie eine besondere Beziehung zu diesem Rudi? Ist sie ihm später wiederbegegnet? Hat sie seinetwegen Psychologie studiert? Hat sie an diesem Schreibtisch gesessen und Erinnerungen an das Heim in ihrem Tagebuch notiert, das Lea Wenzel nun angeblich gefunden hat? Der Schreibtisch gibt es nicht preis, Staub und Reste des Rußpulvers der Spurensicherer liegen auf den Büchern, dem Foto, dem Schreibblock, den Stiften, dem Lineal. Dort, wo sich diese Gegenstände zwei Jahrzehnte lang befanden, ist das Kiefernholz der Tischplatte heller. Auch in der Mitte des Schreibtischs muss irgendwann einmal für längere Zeit etwas gelegen haben, etwas, das größer war als ein Buch. Manni neigt den Kopf, erkennt vier runde Vertiefungen in den Ecken dieses Vierecks, Druckstellen sind das, kaum wahrnehmbar.
    1986. Eine andere Welt. Gerade erst vergangen und schon nicht mehr vorstellbar. Eine Welt ohne Handys und Laptops und Homecomputer. Er springt auf, reißt den ersten Ordner aus dem Regal, in dem Miriam ihre Studienunterlagen abheftete, dann den zweiten, wird schließlich im dritten fündig. Eine Seminararbeit Miriams, ordentlich getippt in einer Schrift, die er inzwischen auswendig kennt. Das hängende ›e‹, das leicht verwischte ›m‹, der i-Punkt, der das Papier durchbohrt. Miriam hat eine Schreibmaschine benutzt. Eine Lettera 22. Dieselbe, mit der der Täter seine Fotos an Judith Krieger adressiert, wahrscheinlich hat er die ersten Briefumschläge sogar hier an Miriams Schreibtisch beschriftet. Vor dem Mord an Jonas Vollenweider schon.
    Die Kriminaltechniker müssen her. Wieder. Sofort. Er ruft sie an, lässt sich die Maße der Lettera durchgeben. Sie passen exakt in das Rechteck auf dem Schreibtisch. Wieder probiert er, die Krieger zu erreichen, und landet im Leeren. Verdammt. Verdammt! Immerhin weiß er jetzt, wonach er suchen muss, um diesen Täter zu überführen. Er zieht sich Handschuhe an und flucht laut, als er Miriams Schreibtisch durchwühlt. Sie hat eine Schreibmaschine benutzt, dann muss es auch irgendwo Zubehör geben. Farbbänder zum Beispiel, die außer ihr auch der Täter in der Hand hatte. Er öffnet die nächste Schublade, entdeckt Kohlepapier und Tipp-Ex. Tipp-Ex, das noch flüssig ist, also nicht 20 Jahre alt.
    Der Täter war hier, ist an seinem ersten Tatort ein und aus gegangen. Er hat hier in diesem Haus, in diesem Zimmer gesessen und alles geplant. Natürlich konnte er unmöglich wissen, dass Judith Krieger bei ihrem nächtlichen Spaziergang in der

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