Nichts als Erlösung
Toten im Nachthemd, mit einem goldenen Herz, das sie nur nachts trägt, heimlich, wegen ihrer Eltern. Vielleicht hat sich der Verschluss der Kette geöffnet, und das Herz fiel herunter, und der Täter hat es nicht einmal gemerkt. Vielleicht hat er es auch einfach weggeworfen. Jedenfalls trägt er sein Opfer von dieser Stelle noch einmal 100 Meter tiefer in den Wald bis zu der Lichtung. Und dort hebt er ihr Grab aus, entkleidet sie, vergräbt sie. Hier, warum hier, und warum allein?
Der Täter ist Perfektionist. Ein Stratege. Es muss einen Grund dafür geben, das ist kein Zufall. Aber warum auch immer er zwei Gräber anlegte – er kann das alles unmöglich in einer einzigen Nacht geschafft haben. Die Morde in Hürth, das Verwischen der Spuren. Das Verladen der Leichen, ihres Bettzeugs, des Teppichs in seinen Wagen. Die gut zweistündige Fahrt in den Steiner Wald und dann das Vergraben der Leichen. Es haut zeitlich nicht hin, auf gar keinen Fall.
Er hat die Leichen also in einer der Folgenächte der Tat hier vergraben. Vielleicht war das Grab sogar vorbereitet, auch der Tatzeitpunkt war ja kein Zufall, sondern bewusst gewählt: ein Familienfest, Miriams 21. Geburtstag. Doch vielleicht war das Grab, das er ausgehoben hat, nicht groß genug. Weil er nur mit zwei Toten gerechnet hatte, nicht mit dreien. Vielleicht ist Miriam nicht einmal in derselben Nacht wie ihre Eltern gestorben. Möglicherweise hat sie ihm sogar geholfen. Weil sie seine Komplizin war. Oder seine Geisel.
***
Sie ist gerade eingeschlafen, als das Telefon sie aus dem Schlaf reißt. Eine endlos lange Nummer auf dem Display. Queens Spread your wings, immer lauter werdend. Judith kämpft sich hoch. Griechenland. Lea. Atemlosigkeit in ihrer Stimme, unterbrochen von Rauschen und Knistern.
»Ich habe etwas gefunden, in Jonas’ Sachen. Können Sie kommen?«
»Was ist passiert? Was haben Sie gefunden?«
»Ich kann das nicht richtig erklären, Sie müssen das sehen, es ist …« Rauschen, wieder Rauschen. Satzfetzen dazwischen, Aufregung in Leas heller Stimme. Miriam … Jonas … ein Versteck, ein Tagebuch.
Die Verbindung bricht ab, lässt sich nicht wiederherstellen. Kurze Zeit später kommt eine SMS. SCHLECHTER EMPFANG, WIEDER DER STROM! KÖNNEN SIE KOMMEN? MORGEN SCHON?
Morgen schon, das ist beinahe heute. Der freie Sonntag, den Millstätt ihr verordnet hat. Judith steht auf und geht ins Wohnzimmer, schaltet den Laptop an, setzt sich damit aufs Sofa. Sie hat von dem Schimmel geträumt, bevor Leas Anruf sie weckte, sie weiß nicht mehr, was, weiß nur, dass er da war und auf sie zu warten schien. Sie geht ins Internet und ruft eine Flugbörse auf. Es gibt einen Direktflug von Köln nach Samos um 5:05 Uhr, und er hat noch freie Plätze. Es gibt einen Flug zurück nach Düsseldorf um 23 :oo Uhr.
Sie denkt an die bunte Katze und an das Meer. Sie denkt an das Regengefühl der vergangenen Nacht. Sie war sich so sicher gewesen, dass ein Durchbruch bevorsteht, sie hat das gefühlt. Und stattdessen stellt sich heraus, dass der Täter ein Wahnsinniger ist, der sie für seine Verlobte hält, und ihr Chef zieht sie ab, lässt sie nicht einmal helfen, diesen Spuk zu beenden. Sie springt auf und läuft in die Küche, reißt die Tischschublade auf, holt das Tabakpäckchen heraus. Drum light. Ihre Marke. Der Geruch macht sie schwindelig, das Zigarettenpapier gleitet wie von selbst zwischen ihre Finger.
Bist du verrückt, Judith, nach diesem Entzug? Willst du das wirklich noch einmal durchmachen? Sie schleudert den Tabak samt der fertig gedrehten Zigarette in den Müll, wäscht sich die Hände, schöpft eiskaltes Wasser in ihr Gesicht, trinkt direkt aus dem Hahn, in langen Zügen. Karl, sie will Karl. Sie will ihn umarmen und fühlen und ihn fragen, was um Himmels willen sie jetzt machen soll. Aber Karl ist unterwegs, fotografiert in der Schweiz, wo genau und was, hat sie vergessen.
Sie wählt Leas Nummern, erst das Handy, dann das Festnetz. Erreicht nur eine Automatenstimme, die etwas auf Griechisch herunterrattert. An einem Tag nach Samos und wieder zurück. Es ist möglich, sie kann das machen. Es ist ihre Freizeit, ihr Geld, ihre Entscheidung, sie muss einfach nur buchen. Aber wenn sie dort ermittelt, wird dieser Trip ohne offizielle Genehmigung zum Dienstvergehen, und das ist dann das Ende ihrer Zeit in der Mordkommission, ein weiteres Disziplinarverfahren wird sie kaum überstehen.
Sie geht auf die Dachterrasse, fühlt die Nachtluft auf ihrem Gesicht,
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