Nichts als Erlösung
Hirn in den Turbomodus schalten. Der Täter schießt, und Sievert geht stiften, im Zickzack durchs Gebüsch, dann versteckt er sich im Unterholz, wartet, bis die Luft rein ist, pirscht über die dunklen Felder zu seinem Wagen und rast heim, und er schwört, dass ihm niemand gefolgt ist und dass weder der Metalldetektor noch die Taschenlampe, die er bei seiner Flucht zurückließ, einen Hinweis auf seinen Namen oder gar seine Adresse trugen. Und doch hat der Täter die herausgefunden, denn als Nächstes schickt er Sievert ein Foto von seiner Familie. Unwillkürlich ballt Manni die Faust. Das ist zumindest ein Teil dessen, was ihn so unruhig macht: Der Täter kann Sieverts Adresse nicht kennen, und kennt sie doch.
Er meldet sich bei den Kollegen ab und sitzt kurz darauf schon wieder im Mondeo. Sievert verschweigt etwas, es muss so sein, aber jetzt ist die Schonzeit vorbei, jetzt muss er ausspucken, was Sache ist, ohne Wenn und Aber. Manni klemmt sein Handy in die Freisprechanlage und wählt Sieverts Nummer. Er sei nicht zu Hause, sondern bei den Schwiegereltern, sagt Sievert und gibt ihm brav die Adresse durch. Haydnweg, ganz am anderen Ende von Darmstadt. Aber auf ein paar Kilometer mehr kommt es nicht an. Es wird schon dämmrig, ein weiterer Tag geht zu Ende, ein weiterer Tag zwischen Wald und Straße, Straße und Wald, immer hin und her. Warum hat der Täter Jonas erst 20 Jahre später als dessen Eltern getötet? Was hat er in diesen 20 Jahren gemacht? Und warum lotst er die Polizei jetzt plötzlich zu seinen Opfern, die er zwei Jahrzehnte zuvor so perfekt verschwinden ließ?
Sein Handy reißt ihn aus diesen Grübeleien, und sobald er sich meldet, sprudelt die Krieger eine völlig abgedrehte Story in den Wagen. Dass sie mit Meuser nochmals zu dem Haus gefahren sei. Dass sie versucht habe, sich vorzustellen, wie das damals gelegen habe, einsam am Ortsende Hürths, direkt am Feld. Dass sie deshalb auf dem Rückweg noch durch das Wohngebiet gefahren seien, das ein paar Jahre nach den Morden dort entstanden ist, bis an den heutigen Feldrand, und dort, exakt vor dem Haus, in dem Meuser vor kurzem die Exfrau von Felix Schmiedel vernommen hatte, parkte der Wagen des KURIER-Reporters, er wisse schon, von welchem, und als der nach einer halben Stunde immer noch in dem Haus war, hätten sie geklingelt. Die Krieger schnappt nach Luft und redet gleich weiter. Erzählt von einem verheirateten Liebhaber, einem Professor, der Miriam ein goldenes Herz geschenkt hat, aber Jonas unmöglich getötet haben kann, weil er vor drei Jahren an einem Krebsleiden gestorben ist. Von Miriams Freund Felix Schmiedel, der genau genommen bereits in der Tatnacht vor 20 Jahren ihr Exfreund war und mitnichten am Gardasee weilte, sondern in Hürth.
»Halt«, sagt Manni, »stopp. Selbst wenn dieser Felix Miriam und ihre Eltern getötet hätte, wäre er dann auch in der Lage gewesen, die Spuren so perfekt zu beseitigen? Wie alt war der denn damals?«
»22. Er war gerade fertig mit der Bundeswehr.«
»Das heißt noch lange nicht, dass er auch ein kaltblütiger Stratege ist. Und selbst wenn, was für ein Motiv hätte er, auch noch Jonas zu töten? Jetzt? Nach 20 Jahren?«
Sie seufzt. »Ich weiß es nicht. Gar keins. Aber er war am Tatort. Vielleicht hat er zumindest irgendwas gesehen. Meuser vernimmt ihn jetzt und klärt das ab.«
»Meuser? Und du?«
»Ich bin brav zu Hause, Millstätt ließ sich nicht umstimmen.«
Aus dem Schussfeld, denkt er und im selben Moment: Aber was soll das bringen, wenn der Täter doch ihre Privatanschrift hat?
»Er war noch mal in dem Haus«, sagt sie leise. »Vor kurzem erst. In Miriams Zimmer. Ich konnte ihn riechen.«
»Riechen?«
»War vielleicht auch nur Einbildung, eine Überreaktion, weil ich nicht mehr rauche. Ralf hat jedenfalls nichts gemerkt.«
»Wie roch er denn?«
»Ich weiß es nicht, es war fast nicht wahrnehmbar. Irgendwie schien die Luft sich verändert zu haben. Es roch frischer. Irgendwie sauber.«
»Nach Putzmitteln?«
»Ich weiß es nicht.« Er hört ihren Atem, fast so wie früher, als sie noch rauchte. »Es sah nicht aus, als sei etwas geputzt oder verändert worden.«
»Aber du glaubst, er war dort.«
»Ja. Und wir haben die Fasern von Miriams Schreibtischstuhl.«
Der Schreibtisch unter der Dachschräge, das schmale Bett, das Foto vom Kinderheim, die klaustrophobische Enge der Kammer, er sieht all das so deutlich vor sich, als sei es ihm schon seit Jahren vertraut, hört ein weiteres
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