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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Weg. Dann sieht sie das Pferd, seinen hellen Schatten im fließenden Nebel. Ganz still steht es da, und sie weiß augenblicklich, dass es auf sie wartet.
    Der Traum weckt sie auf. Ein Traum, nur ein Traum, redet sie sich zu. Das Licht vor dem Fenster des Schlafzimmers ist grau, es ist noch sehr früh, ihr Herz schlägt zu schnell. Karl zieht sie an sich, und sie gibt ihm nach, bleibt noch ein paar Minuten liegen und versucht ihren Atem mit seinem zu synchronisieren. Ich könnte dich begleiten, hat er am Abend gesagt, als sie ihm von der Einladung erzählte. Der 75. Geburtstag ihres Stiefvaters. Ein Fest im gehobenen Kreis. Banker und Wirtschaftsleute und ihre Brüder mitsamt ihren Vorzeigefamilien sind in ein Frankfurter Nobelhotel geladen. Es hätte Charme, dort mit Karl aufzutauchen. Die Leichenfachfrau, die sich als Begleiter ausgerechnet einen freischaffenden Fotografen ausgesucht hat, dem es mehr um Kunst geht als ums Geld.
    Sie löst sich von Karl, duscht, zieht sich an und macht sich Frühstück. Milchkaffee und Grapefruitsaft und zwei Scheiben Vollkornbrot mit Quark und Tomaten. Sie zwingt sich, im Sitzen zu essen, langsam, bewusst. Der Trick ist, zu begreifen, dass sie keinen Ersatz für die Zigaretten braucht, steht in dem Ratgeber des Nichtraucher-Gurus Allen Carr. Keine Pflaster, Kaugummis, Bonbons, nichts zu essen oder zu trinken. Das Einzige, was sie tun muss, ist, weiterzuatmen, genauso wie immer, nur diesmal ohne Gift, das sie in ihre Lungen saugt. Einatmen, ausatmen, wieder und wieder. Wenn sie das tut, wird ihr Körper irgendwann, bald, aufhören, sich nach Nikotin zu verzehren. Nicht einmal dick wird sie werden, sondern einfach frei.
    Sie steht auf und räumt das Geschirr in die Spülmaschine. Am 11. Juni, einen Tag nach ihrem 40. Geburtstag, hat sie die letzte Zigarette geraucht. Vor 54 Tagen. Nur die Vernunft hält sie davon ab, das Tabakpäckchen aus der Schublade ihres Küchentischs zu nehmen und sich eine Zigarette zu drehen. Die Vernunft und die Erinnerung an jenen Tag im März, als sie sicher war, sie würde sterben. Die Gier nach Leben, die sie da überkam.
    Um kurz nach sechs fährt sie ins Polizeipräsidium. Die Sonne steht noch sehr tief und gleißt auf dem Rhein, der über Nacht noch schmaler geworden zu sein scheint und träge wirkt, wie zäh fließendes Blei. Der Himmel ist wolkenlos, durchscheinend beinahe, wie in ihrem Traum. Fang bitte nicht wieder mit dem kriegerschen Verfolgungswahn an, hat Manni gesagt, als sie den Tatort nochmals inspizierten. Und vielleicht hat er recht, vielleicht hat sie sich nur eingebildet, dass der Täter noch am Tatort war, als die Amerikaner um Hilfe schrien. Es hat lange gedauert, bis sie nach dem missglückten Einsatz im März wieder auf die Beine kam und sich so wie früher bewegen konnte. Ohne Schmerzen. Ohne Schuldgefühle, weil sie ihren Angreifer getötet hat, um ihr eigenes Leben zu retten. Ohne sich ständig nach einem vermeintlichen Verfolger umzudrehen.
    Sie schaltet das Radio ein. Der Wetterbericht verspricht für diesen Tag einen weiteren Hitzerekord. Danach folgt ein Foreigner-Hit aus den 80ern. Judith regelt die Lautstärke hoch. Urgent. Dringend. Als sie noch zur Schule ging, hat sie dazu getanzt. Alles kam ihr damals dringlich vor, nicht mehr aufzuschieben, nicht mehr abzuwarten, keine Minute länger, vor allem der Tag, an dem sie endlich 18 werden würde und nach ihren eigenen Regeln leben konnte. Unabhängig, hatte sie damals gedacht. Frei.
    In ihrem engen Büro ist es noch wärmer und stickiger als am Vortag, auf ihrem Schreibtisch stapeln sich neue Vernehmungsprotokolle und Berichte, ganz obenauf liegt ein Nachtrag der Kriminaltechnik. Als Tatwaffe kommt mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 60 Prozent eine Walther P 38 infrage. Die Walther P 38 wurde bis Ende der 90er-Jahre als Standardfaustfeuerwaffe bei der Bundeswehr eingesetzt und hieß dort P 1. Judith legt den Bericht beiseite. Eine Bundeswehrpistole. Vielleicht. Möglicherweise. Wenn das stimmt, was sagt das über den Täter aus? Dass er irgendwann vor 1999 bei der Bundeswehr diente, genauso wie Zehntausende andere Männer? Hat er sein Opfer dort kennengelernt?
    Sie schaltet ihren Computer an, liest ihre E-Mails und überprüft die Suchmeldungen. Nichts. Gar nichts. Bisher hat niemand einen Mann, dessen Beschreibung auf den Toten aus der Altstadt passt, als vermisst gemeldet. Man überprüfe die Fingerabdrücke und die DNA-Probe des Toten so bald wie möglich, schreibt ein

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