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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Kollege vom BKA. Sie ruft ihn an, unterstreicht die Dringlichkeit, nimmt ihm das Versprechen ab, dem Fall aus Köln Priorität einzuräumen. Solange sie die Identität des Opfers nicht kennen, agieren sie im luftleeren Raum, nein, das ist falsch, solange sie die Identität des Opfers nicht kennen, können sie eigentlich überhaupt nicht agieren. Sie müssen wissen, wo das Opfer lebte, wie, mit wem, um eine Ermittlung zu führen. Wer er war, wer ihn liebte und wer ihn hasste. Wer. Warum. Sie steht auf, tritt ans Fenster, setzt sich wieder hin. Das Schlimme am Warten ist, dass man nie weiß, wann es vorbei sein wird, weil man von so vielem abhängig ist: von Kollegen, Zeugen, manchmal auch von einem Zufall oder einer Eingebung, die sich mit bloßer Willenskraft nur äußerst selten herbeizwingen lässt. Ist das Pferd aus ihrem Traum ein Botschafter ihres Unbewusstseins? Hat es eine Bedeutung für diesen Fall? Beim Aufwachen glaubte sie zu wissen, dass die Landschaft, in der es stand, am Meer liegt. An einem südlichen Meer, vielleicht sogar an der Ägäis, doch jetzt im Rückblick ist sie sich dessen nicht mehr sicher.
    Sie drängt die Erinnerung an den Traum beiseite. Der Morgen schleppt sich dahin, vergeht mit Routineaufgaben, Besprechungen, Berichten, Telefonaten. Zwischen ihrer Tagespost steckt ein weiterer anonymer Brief. Diesmal ist er frankiert, trägt einen Kölner Poststempel, und das Foto darin ist nicht ockerfarben, sondern dunkelbraun. Judith wühlt aus dem Stapel älterer Vorgänge das erste Foto hervor, das ein paar Tage vor dem Altstadt-Mord in ihrer Post war. Auch dieses ist ockerfarben. Auch dieser Briefumschlag trägt altmodische Schreibmaschinenlettern und wurde in Köln frankiert. Sie nimmt auch das dritte Foto heraus, legt sie alle drei nebeneinander, starrt sie an. Hell, hell, dunkel. Ein Rätsel mehr, das sie nicht lösen kann. Ein Rätsel mehr, das ein Gefühl von Unwirklichkeit erzeugt. Wie in ihrem Traum. Wie am Tatort. Wie an diesem Morgen. Vielleicht liegt es an der Hitze, die alles verlangsamt, jede Bewegung, jeden Gedanken.
    Ihr Telefon reißt sie zurück in die Gegenwart, auf dem Display erkennt sie die Nummer des BKA.
    »Jonas Vollenweider«, sagt der Kollege am anderen Ende der Leitung. »Die DNA ist ein hundertprozentiger Treffer.«
    Ein Name, endlich. Ein Name und damit auch bald ein Gesicht. Sie fühlt das altbekannte Prickeln, greift automatisch zu der Stelle, wo früher ihr Tabak lag.
    »Ein alter Fall.« Durchs Telefon hört sie das Klackern einer Computertastatur. »20 Jahre alt, um genau zu sein«, sagt der Kollege aus Wiesbaden nach einer kleinen Pause. »Ein Fall von euch.«
    »Hier aus Köln?«
    »Yep. Aus eurer Mordkommission. Vollenweiders DNA wurde im Zuge einer routinemäßigen Überprüfung der Asservaten von damals nachträglich generiert. Vor 20 Jahren war das ja noch nicht möglich.«
    Ein Fall, der noch offen ist, also. Ungelöst. Sie klemmt sich den Hörer unters Kinn, füttert den Namen ins System und starrt auf das Foto, das kurze Zeit später erscheint. Ein gut aussehender junger Mann mit hellen Augen und sehr gerader Nase und dem sinnlichen Kinn, das sie schon kennt. Gesichtsverlust. Rache. Jemand wollte, dass er sein Gesicht verliert. Wie ein fernes Echo hört sie Mannis Worte während der Obduktion, ihren Dialog.
    Sie räuspert sich. »Was war Jonas Vollenweiders Rolle in diesem alten Fall?«
    »Er war der Hauptverdächtige. Oder ein zu Unrecht verdächtigter Angehöriger. Geklärt wurde das nie.«
    »Und wer war das Opfer?«
    »Die Opfer. Plural. Vollenweiders Eltern. Und seine Schwester. Jedenfalls glaubt man, dass das so war.«
    »Man glaubt? Was soll das heißen?«
    »Ohne jeden Zweifel hat es vor 20 Jahren in dem Wohnhaus der Vollenweiders ein Blutbad gegeben.«
    »Aber?«
    »Man fand keine Leichen, bis heute nicht.«
    ***
    Hitze und Schweißgeruch. Ein zu penetrantes Aftershave. Handygefiedel und hektische Schritte auf dem Flur der Mordkommission. Die Neuigkeiten der Krieger haben die Soko Altstadt aus ihrer bis dahin eher zähen Ermittlungsroutine in null Komma nichts auf Tempo 100 gebracht. Millstätt persönlich hat ihnen Aufgaben zugewiesen, die sie vor der großen Lagebesprechung zu erledigen hatten. Splitter, Schlaglichter. Bausteine, die sie nun zusammenfügen. Etwas kommt näher, denkt Manni. Eine Dynamik entsteht, ein Sog, der uns mitreißt, und niemand kann sagen, wo das enden wird.
    »Judith, bitte.« Millstätt winkt seine einstige

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