Nichts als Erlösung
undenkbar muss für die Nibelungen und Römer die heutige Welt gewesen sein. Das Atomkraftwerk, dessen beleuchtete Kühltürme sich vor ihm aus den schwarzen Feldern wölben, hätte sie wohl in blinde Panik versetzt. Ganz anders als die heutigen Anlieger, die neulich erst mit einer Megaparty gefeiert haben, dass der altersschwache Reaktor noch ein Weilchen am Netz bleiben darf.
Er durchquert Biblis und parkt am Abzweig nach Nordheim, hebt sein Mountainbike aus dem Kofferraum und radelt die letzten Kilometer, ohne das Licht einzuschalten. Trotzdem findet er den Feldweg zum Naturschutzgebiet ohne Probleme und auch die Stelle, wo er sein Rad optimal im Unterholz verbergen kann. Er vergewissert sich noch einmal, dass er allein ist, bevor er in den Auenwald tritt. Wieder, wie in der Nacht zuvor, gellt der Schrei eines Nachtvogels auf, als wolle der ihn grüßen, und fast kommt es ihm vor, als ob sich das Unterholz hinter ihm willentlich schließe.
Er tastet sich etwa zehn Meter vorwärts, bleibt stehen, macht den Deus startklar und wartet darauf, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Noch einmal schreit der Vogel auf, klagender jetzt, und unwillkürlich erinnert ihn das an die bleichen Knöchelchen, die er gefunden hat. Frieden ist nichts, was von Dauer ist, das hat er früh begreifen müssen, auch die Natur ist nicht idyllisch, jedenfalls nicht für jene Geschöpfe, die darin ums Überleben kämpfen.
Schritt, Schwung, Schritt, Schwung. Die Mücken sind wieder da, der Modergeruch, das hüfthohe Unkraut. Schon nach zehn Minuten kleben ihm die Klamotten am Körper, und seine Füße in den Gummistiefeln beginnen zu schwellen. Er wischt mit dem Jackenärmel Schweiß von der Stirn, konzentriert sich darauf, den Rest des Gebiets, in dem er die Herzkette fand, zu untersuchen. Vergebens, nach fast zwei Stunden hat er außer Aluschrott und zwei Bleikugeln nichts Interessantes gefunden.
Wohin jetzt, wie weiter? Er ruft sich die Topografie des Steiner Walds vor Augen, entscheidet sich dann für ein neues Suchareal, ein paar hundert Meter näher an der Festung. Schritt, Schwung, Schritt, Schwung. Er denkt jetzt nicht mehr, fühlt die Hitze nicht, all seine Bewegungen sind automatisiert, fast schlafwandlerisch, wie die eines Leistungssportlers nach langem Training, den Befehlen des Deus unterworfen. Und dann ist plötzlich alles anders, denn das nächste Signal ist ein lautes Summen. Nicht auf der Goldfrequenz zwar, aber stark, stark, so stark, wie es auch bei dem Bronzeschild war.
Mit angehaltenem Atem führt Eric Sievert den Metalldetektor über den Boden. Tiefer. Langsamer. Wieder ertönt das Signal. Er kniet sich hin, wirft den Deus zur Seite, schaltet die Taschenlampe ein, legt sie so auf den Boden, dass sie die Fundstelle beleuchtet, löst den Klappspaten vom Gürtel und beginnt zu graben. Der Boden ist schwer, säuerlicher Sumpfgeruch dringt ihm in die Nase. Er lässt die erste Schaufel Erde neben sich fallen, dann die nächste, kontrolliert den Aushub mit dem Pointer, stößt den Spaten noch tiefer. Da, endlich, bekommt er die Ursache für das Signal zu packen. Ein Stück Metall, seltsam verbogen, undefinierbar. Was zum Teufel? Eric Sievert hebt die Taschenlampe auf, beugt sich über das Grabloch, leuchtet und zieht das Metall heraus. Doch das ist nicht alles. Etwas Helles schimmert darunter. Knochen. Ein menschlicher Fuß.
Heute ist kein guter Tag. Erinnerungen quälen mich. Kristallscharf, als müsse ich nun, da ich meinen Weg vollende, auch alles Vergangene noch einmal durchleben. Hinzu kommt die jähe Ernüchterung nach dieser wahnsinnigen Freude gestern. Das Wissen, wie bald ich Dich loslassen muss, obwohl Du doch gerade erst zu mir kamst.
Vielleicht ist es ja auch das Warten, das mich quält. Ich habe schon so lange und auf so vieles gewartet. Ich kann das nicht mehr. Wohl deshalb bin ich noch einmal zu den Gräbern gefahren. Aber selbst dort finde ich keinen Frieden mehr, selbst von dort will man mich vertreiben.
Natürlich, ja, auch das ist ein Zeichen. Aber ich kann mich nicht freuen, nicht heute.
Ich sehne mich nach Dir. Ich würde unsere Nähe so gerne auskosten. Doch ich weiß, dass sie enden muss.
Montag, 3. August
Die Landschaft ist ihr vertraut und doch seltsam fremd. Sie vermag nicht zu sagen, woran das liegt. Vielleicht ist es das Licht, das diffus ist, fast künstlich. Wie sonnendurchfluteter Nebel, der alle Konturen zugleich überzeichnet und verschleiert: die Felsen, die Kiefer, den
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