Nichts als Erlösung
sie die Haustür öffnet.
»Hier sind zwei Kommissare aus Köln, wegen dieser Mordsache aus der Zeitung«, sagt sie. »Die wollen dich sprechen.«
***
Sie fahren Kolonne. Manni und sie bilden mit Eric Sievert auf dem Rücksitz die Spitze. Mehrere Streifenwagen folgen ihnen, ein Zivilfahrzeug mit Kollegen der hessischen Landeskriminalpolizei, Kriminaltechnikern und zwei Rechtsmedizinern aus Frankfurt. Judith starrt aus dem Fenster. Es ist spät geworden, der Himmel über der Bergstraße, deren grüne Hügel sich neben der Autobahn erheben, wird schon golden, fast so wie auf Samos. Wann war sie dort gewesen, vorgestern, gestern? Es scheint Lichtjahre her zu sein, eine Erfahrung aus einem anderen Leben, irreal wie ein Traum. Sie schließt für einen Moment die Augen, glaubt den flirrenden Lockruf der Zikaden zu hören, sieht das Haus im Olivenhain zum Greifen nah vor sich, den Schimmel davor und Koios, seinen dunklen Begleiter.
»Hier müssen Sie raus und dann auf die B 44 in Richtung Biblis.« Eric Sieverts Stimme klingt heiser, vielleicht ist das normal, vielleicht liegt es auch an dem Druck, unter dem er ganz offenbar steht. Sie wollten ihm einfach nur die Waldfotos zeigen, weil sie mit Kurt Böhm nicht weiterkamen. Er kenne diese Stelle nicht, hat auch Sievert zuerst behauptet. Doch dann hat er die Ermittlungen auf vollkommen unvorhersehbare Weise vorwärtskatapultiert. Die Wiese auf den Fotos sähe sumpfig aus, hat Sievert gesagt. Der Wald könne ein Auwald sein. Er kenne ein solches Gebiet, sei dort in letzter Zeit manchmal gewesen. Er sei auf menschliche Knochen gestoßen, die Gebeine eines im Krieg gefallenen Soldaten vermutlich. Aber dann habe jemand auf ihn geschossen, und am nächsten Tag habe er mit der Post ein Foto erhalten, ein Bild ohne Köpfe, von seiner Frau und den Kindern. Unheimlich sei das, unerklärlich. Er könne schwören, dass der Schütze ihm nicht gefolgt sei, wieso also kannte der überhaupt seine Adresse? Und dann diese Berichte in der Zeitung, über die verschwundenen Leichen, und Kurt sei in letzter Zeit schon etwas komisch gewesen …
Judith dreht sich um und mustert Sievert. Ein sportlicher Typ mit Muskeln, kantigem Kinn und sinnlichen Lippen. Ein Machertyp, in dem sicher viele Frauen den perfekten Beschützer vermuten. Sievert ringt sich ein Lächeln ab, vermeidet es aber, ihr in die Augen zu sehen.
»Ich weiß nicht, ob Kurt auf mich geschossen hat«, sagt er mechanisch. »Ich weiß es wirklich nicht, Kurt ist doch mein Freund.«
Sein Handy klingelt, bevor er noch etwas hinzufügen kann, er meldet sich hastig, stößt einen Seufzer aus.
»Sabine, ja, gut, ich …«
Er holt Luft, doch seine Frau hat schon wieder aufgelegt.
»Ist sie mit den Kindern bei ihren Eltern angekommen?«, fragt Judith.
Sievert nickt, starrt sein Handy an, als wolle er es zwingen, noch einmal zu klingeln. Seine Sorge um das Wohl seiner Familie wirkt echt, dessen ist Judith sich sicher. Doch er hat seiner Frau nichts von den Schüssen erzählt und auch nichts von seinem Verdacht. Du bist verrückt, Eric, hat sie geflüstert und nach dem goldenen Herz in ihrer Halskuhle getastet. Sag mir sofort, dass das alles nicht wahr ist.
»Von Biblis aus dann Richtung Nordheim«, sagt Sievert, ohne den Blick von seinem Handy zu nehmen. Vielleicht ist er so angespannt, weil er Eheprobleme hat. Vielleicht fürchtet er auch, dass seine illegale Schatzsuche juristische Konsequenzen haben wird. Oder da ist noch mehr, etwas, das er verschweigt, das sie nicht einmal ahnen.
Judith dreht sich wieder nach vorn. Die Landschaft, durch die sie jetzt fahren, ist flach und reizlos, von den Erhebungen der Bergstraße ist nichts mehr zu sehen. Sie müssen diese Knochen ausgraben, müssen so schnell wie möglich Gewissheit haben, ob Sievert die sterblichen Überreste der Vollenweiders gefunden hat. Erst dann können sie entscheiden, wie sie weiter vorgehen. Sie passieren ein Dorf, dessen Häuser sich entlang der Landstraße drängen, als gebe es sonst keinen Platz für sie. ›Hessischer Hof – more you can eat‹ verspricht die Reklametafel an der Fassade einer Gaststätte mit Butzenfenstern. Dann taucht völlig unvermittelt das Atomkraftwerk Biblis in den Feldern vor ihnen auf, ein weißer Koloss, neben dem alles andere winzig erscheint.
Das Schweigen Eric Sieverts ist ein anderes als das von Kurt Böhm, wird Judith plötzlich klar. Böhms Weigerung zu sprechen hatte etwas Brütendes, Dunkles, sich selbst Verzehrendes.
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