Nichts als Erlösung
dessen Zentrum ein Foto prangt. Böhm und ein zweiter Mann mit Spaten und Metalldetektoren vor einer Lehmgrube. »Sondengehen. Hessens Vergangenheit ausgraben.« Manni lächelt noch breiter. »Da kennen Sie sich hier in der Gegend sicher gut aus.«
***
Er kann nicht länger schweigen, darf nicht länger schweigen. Kann nicht, darf nicht. Die Gedanken surren hinter seiner Stirn, gereizte Hornissen, all die verpassten Chancen, all seine Fehler, die nicht mehr gutzumachen sind. Vielleicht ist dieses Foto ohne Köpfe ja gar keine Drohung, vielleicht muss er sich nur einfach wieder beruhigen. Aber wer sollte ihm so etwas schicken, noch dazu anonym. Und kurz nachdem jemand auf ihn geschossen hat? Er packt die Schleifmaschine zu dem anderen Werkzeug in die Tasche, wirft alles in den Lieferwagen, gibt es dran für diesen Tag. Das Foto muss nicht von Kurts Grundstück aus aufgenommen worden sein, mit einem Teleobjektiv ginge das wohl auch von der Straße aus. Theoretisch kann jeder ein paar Meter in den Carport von Kurt reinlaufen und Sabine und die Kiddies im Sandkasten knipsen. Die Frage ist nur, wer würde so etwas tun?
Er erreicht den Betrieb, trägt sich aus für den Tag, sitzt schon kurz darauf in seinem eigenen Wagen. Heim, er muss heim, zu Sabine und den Kindern. Er lässt das Fenster runter, trinkt ein paar Schlucke lauwarmes Wasser, fädelt sich in den Berufsverkehr ein. Kurts Blick auf die Karten vom Steiner Wald neulich morgen. Kurts Blick auf seine Mückenstiche. Wie er mit Julia auf den Schultern über die Terrasse kam, ihr glucksendes Lachen, ihr Juchzen, sie liebt ihren Onkel Kurt, sie würde ihm ohne Protest überallhin folgen und Jan genauso. Wie leicht es für Kurt wäre, die Kinder irgendwohin mitzunehmen, leicht wie ein Flügelhauch. Auch Sabine würde ihm die beiden bedenkenlos anvertrauen.
Eric schlägt mit der Faust aufs Lenkrad, mit voller Kraft, doch er spürt keinen Schmerz. Krank ist das, absolut krank, so zu denken. Kurt ist sein Nachbar, sein Freund, kein Kindermörder. Und wenn er eine beschissene Jugend hatte, so what? Kurt ist glücklich mit Marion, er hat vier tolle Kinder, ist erfolgreich als Geschäftsführer, er ist immer korrekt. Und wenn nicht? Wenn diese scheinbar so heile Welt gar nicht heile ist? Jetzt weiß er, was ein Dilemma ist: Man kann nicht gewinnen, egal, was man tut, es droht immer kübelweise Scheiße. Und trotzdem hat er nur eine Möglichkeit, denn wenn Jan oder Julia irgendetwas geschieht, wenn sie einfach verschwinden würden, auf Nimmerwiedersehen, so wie diese Heimleiter-Familie, die die Polizei angeblich seit 20 Jahren sucht … Wieder versetzt er dem Lenkrad einen Hieb. Zum allerersten Mal kann er Sabines ständige Sorge um die Kinder wirklich verstehen. Ihre Weigerung, wieder arbeiten zu gehen, solange die beiden nicht in der Lage sind, allein nach Hause zu finden, ihre Namen zu buchstabieren, Handys zu benutzen. Gluckenhaft hat er das manchmal bei sich genannt, übertrieben, das verwöhnte Gehabe der höheren Tochter. Wütend hat ihn das sogar gemacht. Er schuftet sich ab, und es reicht trotzdem nicht für sie alle. Sie bleibt zu Hause und buttert stillschweigend Geld von ihrem Daddy dazu, der ihn dafür verachtet.
Wenn er zur Polizei geht, fliegt er auf und kann seine Ehe vergessen. Wenn er Kurt anschwärzt und der unschuldig ist, verrät er ihre Freundschaft. Aber hat er eine Wahl? Hat er irgendeine Wahl?
Die ungeschminkte Wahrheit. Wieder drischt er aufs Lenkrad. Nie, niemals hätte er sich auf den Deal mit darkcave einlassen dürfen. Damit fing alles an, seitdem hat er im Steiner Wald dieses Scheißgefühl, seitdem hat er Sabine belogen. Und dann diese Kette, seine nächste Lüge. Wie soll er Sabine die abnehmen, ohne sie zu enttäuschen und dabei völlig sein Gesicht zu verlieren?
Er erreicht Eberstadt, seine vertraute Straße, die ihm plötzlich fremd vorkommt, so fremd wie anfangs, als er erst bei Kurt renovierte und dann bei Sabine, als er dachte, jemand wie er gehöre hier nicht her. Er unterdrückt den Impuls, einfach Gas zu geben und an seinem Haus vorbeizufahren, einfach immer weiter, irgendwohin in ein neues, ehrlicheres Leben. Er schaltet den Motor ab und steigt aus dem Wagen.
Er muss mit Sabine reden, vielleicht wird sie ihn ja verstehen, ihm noch eine Chance geben, vielleicht können sie zusammen eine Lösung finden, und auf jeden Fall muss er dafür sorgen, dass Jan und Julia nichts passiert. Doch es ist zu spät, das sieht er ihr an, als
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