Nichts als Erlösung
Er nickt ihr zu, zündet sich eine Zigarette an. Selbst gedreht, wieder wird ihr Mund ganz trocken, und ihr Herz schlägt zu hart, schlägt viel zu hart. Sie wendet sich ab, betrachtet die Lichtung, versucht, sich allein darauf zu konzentrieren. “Nicht die richtige Stelle, nicht die von den Fotos. Was hat das zu bedeuten? Dass, was auch immer sie hier finden, nicht das ist, was sie suchen? Gehört auch das zum perfiden Spiel dieses Täters?
Er ist hier. Er kann mich sehen. Für den Bruchteil einer Sekunde ist sie davon überzeugt, dann ist das Gefühl auch schon wieder verflogen. Die Zeit scheint dahinzuschleichen und dennoch zu rasen. Die Kriminaltechniker haben die Regie übernommen, untersuchen die Lichtung auf Spuren, langsam, unendlich langsam, Zentimeter für Zentimeter.
»Du musst los, oder?« Manni tritt neben sie.
»Ja, schon, aber ich kann doch nicht…«
»Klar kannst du, das wird hier noch dauern, und ich halte die Stellung.«
»Das hier ist nicht die Lichtung von den Fotos.«
»Ich weiß, aber heute werden wir die nicht mehr finden.« Er hält ihr den Autoschlüssel hin, und sie will ihn nicht nehmen, nimmt ihn dann doch.
Unwirklichkeit, noch stärker jetzt, als sie den Mondeo zurück auf die Autobahn lenkt. Unwirklichkeit, und zugleich das Gefühl, einer Gefahr zu entkommen, die auf dieser Lichtung lauert, ungreifbar, unsichtbar, wie der Nachhall von etwas, das nicht vergehen will. Sie nimmt die A5 bis zum Frankfurter Kreuz, fährt von dort zum Flughafen, gegen dessen Ausbau sie einst demonstriert hat, früher, in einem anderen Leben. Sie parkt in einer der Tiefgaragen, hastet von dort durch endlose Korridore zu den Shopping-Malls, kauft ein paar silberne Absatzsandalen, ein passendes Schultertuch und eine sündhaft teure Flasche schottischen Edelwhisky, die sie als Geschenk verpacken lässt. In einem WC macht sie sich, so gut es geht, frisch, zieht das Kleid und die Sandalen an, bändigt ihre Locken mit einem Seidenschal und sitzt eine halbe Stunde später wieder im Auto. Fremd fühlt sie sich und zugleich seltsam leicht, als sie auf die Skyline des Frankfurter Bankenviertels zufährt. Sie schiebt Foreigners 4 in den CD-Player, dreht die Lautstärke hoch, lässt sich für den Rest des Wegs von der rotzig-optimistischen Leidenschaft des Sängers in ein jüngeres Ich verwandeln.
Das Hotel, in das ihr Stiefvater geladen hat, verfügt über eine Tiefgarage. Im Aufzug schminkt Judith sich die Lippen und wünscht sich auf einmal, Karl wäre hier, aber bis zu diesem Moment war sie ja nicht einmal selbst sicher, dass sie es zu dieser Party schaffen würde. Der Aufzug gleitet fast geräuschlos nach oben, ihr Stiefvater hat sich mal wieder nicht lumpen lassen und das gesamte Hotelrestaurant inklusive der Dachterrasse für seine Gäste gemietet. Eine junge Frau in Uniform hakt Judiths Namen auf der Gästeliste ab, ein Kellner wieselt herbei und drückt ihr ein Glas Sekt in die Hand. Das Geklapper von Besteck und Porzellan klingt von der Terrasse herüber, Lachen und Stimmengewirr, es duftet nach Gebratenem, Windlichter flackern. Die Aussicht ist perfekt, ein Lichtermeer im Abenddunst bis zum dunkleren Horizont, wo sie eigentlich sein sollte, weil ihre Kollegen dort nach Leichen graben.
»Judith, endlich, du siehst…« Ihre Mutter fasst Judiths Hand und zieht sie an sich, tritt einen Schritt zurück und schickt einen schnellen Blick über Judiths Gesicht, ihr nachtblaues Billigkleid, das immerhin tadellos sitzt und keine Falten wirft, die Sandalen, bleibt einen Moment zu lange an den Narben auf ihrem linken Handgelenk hängen.
»Hinreißend sieht sie aus!« Judiths Bruder Edgar umarmt sie und drückt ihr einen Kuss auf die Wange, zieht sie dann mitten hinein ins Gewimmel auf der Dachterrasse, bis zu einem Stehtisch, an dem Wolfgang Krieger ihr entgegenlächelt und sie viel länger umarmt als jemals zuvor, und dann eilt auch schon ein Fotograf herbei, dicht gefolgt von ihrem zweiten Bruder Artur und ihrer Mutter, und im Nu werden sie alle für ein Foto in Position geschoben: Familie Krieger, glücklich vereint, und das fühlt sich sogar richtig an, richtig und wahr.
Erst später, als sie einen kurzen Moment alleine ist, erinnert sich Judith wieder an die Begrüßung ihrer Mutter und an diesen Blick, mit dem sie Judith angesehen hat. Etwas lag darin, etwas, das immer schon da war und ihr Verhältnis zu ihrer Mutter verkompliziert hat, aber auch jetzt kann sie nicht definieren, was genau das eigentlich
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