Nichts als Erlösung
Zobel hält inne, sein Hirn läuft auf Hochtouren. Glaubt Feger, der Täter stammt aus der Familie, nicht aus dem Heim? Offenbar ja, denn als Zobel diese These laut wiederholt, ist die Antwort ein Nicken. Und dann ist die Audienz vorbei, jedenfalls ist Fegers Hausdrache dieser Ansicht, und Feger selbst macht keinerlei Anstalten, ihr zu widersprechen. René Zobel will protestieren, erkennt aber, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als sich zu fügen. Ohne die Unterlagen aus dem Archiv.
»Ich würde gern bald wiederkommen, wenn ich darf«, sagt er sehr viel freundlicher, als ihm zumute ist. »Sie über den Gang der Dinge informieren, ein bisschen plaudern. Und vielleicht haben Sie ja doch noch ein paar Unterlagen von damals?«
Feger mustert ihn. Ein beinahe spitzbübisches Lächeln spielt um seine Lippen. Dann hebt er die Hand und zeigt auf das Foto von Miriams Freund.
»Der lügt«, sagt er überraschend klar.
***
»Sie verstehen das nicht«, sagt Kurt Böhm ein weiteres Mal.
»Dann erklären Sie es. Sagen Sie uns, wie es gewesen ist«, erwidert Judith.
»Das würde nichts bringen.« Böhm schüttelt den Kopf, schwerfällig und stur, wie ein Ochse, der sich gegen Schmeißfliegen wehrt.
»Versuchen Sie es trotzdem.«
Böhm schweigt, den Blick auf den tadellos blank polierten Couchtisch geheftet. Er will nicht über die Jahre im Kinderheim sprechen. Er will überhaupt nicht mit ihnen sprechen, jedes Wort, das er sich entlocken lässt, jede seiner Bewegungen, jede einzelne seiner Körperzellen strahlt das aus. Ja, er ist im Haus Frohsinn aufgewachsen. Ja, er lebt seit 1979 in Darmstadt und hat seit einem Jahr beruflich oft in Köln zu tun, das hat er alles zugegeben. Aber Rache für eine nicht optimale Kindheit, Mord sogar, nein, ganz sicher nicht. Es sei absurd, ihn mit einer solchen Anschuldigung zu konfrontieren. Absurd, krank, durch nichts zu rechtfertigen. Er sei seit 1990 glücklich verheiratet, er habe vier Kinder, Erfolg im Beruf, ein gutes, befriedigendes Leben.
Manni wird unruhig neben ihr, steht auf und geht zum Fenster.
»1981 haben Sie zum ersten Mal geheiratet. Im April. Kurz zuvor hat jemand das Kinderheim Frohsinn niedergebrannt«, sagt er zu Böhms Hinterkopf.
Böhm regt sich nicht, sitzt wie versteinert.
»1985 hat Ihre Frau die Scheidung eingereicht. Ein halbes Jahr vor dem Mord an den Vollenweiders«, fährt Manni fort.
»Wir waren zu jung«, sagt Böhm monoton.
»Zu jung, tatsächlich, ja?«
»Ilona war gerade erst 18, als wir uns kennenlernten, ich habe noch studiert.«
»Das muss doch kein Grund für eine Scheidung sein.«
»Es hat nicht gepasst.«
»Was hat nicht gepasst?«
»Ilona und ich.«
»Einfach so?«
»Wer trifft schon auf Anhieb die richtige Frau?«
Er ist zu ruhig, denkt Judith, viel zu beherrscht, er gibt nichts Persönliches von sich preis, was wir hier zu sehen bekommen, ist eine Fassade.
»I-lo-na«, sagt Manni vom Fenster her, jede Silbe zerdehnend. »Wie sie das wohl sieht?«
»Das müssen Sie sie schon selber fragen.«
»Haben Sie noch Kontakt zu ihr?«
Böhms Augen verengen sich, etwas blitzt darin auf, das nicht zu seiner stoischen Ruhe passen will. Wut vielleicht. Die Angriffslust eines in die Enge getriebenen Tiers.
»Das ist Ihr Job, ja, unbescholtene Bürger mit absurden Unterstellungen belästigen, im Schmutz rumwühlen.«
»Wieso Schmutz, ich dachte, es hätte ganz einfach nicht gepasst mit Ilona und Ihnen«, sagt Manni ungerührt.
Böhm winkt ab, eine Geste, die wohl Resignation ausdrücken soll. »Soweit ich weiß, hat sie später einen amerikanischen Soldaten geheiratet, der damals hier in Darmstadt stationiert war, und ist in die USA ausgewandert.«
Ein Soldat, Militär, interessant, wenn man an die Tatwaffe denkt. Auch wenn Judith Mannis Gesicht vor dem hellen Fenster nur undeutlich erkennen kann, kann sie ihn das förmlich denken sehen. Aber es bringt sie nicht voran, ist nichts weiter als Spekulation. Ist Böhm der Täter, ist er der Mann, dessen Schatten sie vor einer Woche in der Altstadt gesehen hat? Er könnte es sein, er hat die Statur. Sportlich, 1,84 Meter groß, und als Alibi für jene Nacht nennt er lediglich seine Frau. Sie mustert ihn, sein sauberes Poloshirt, die gebügelten hellen Hosen, die gepflegten, kräftigen Finger, das militärisch kurz an den Schädel getrimmte Haar, in dem ein erster Hauch Silber schimmert. Vielleicht gibt es irgendwo in diesem Haus eine alte Olivetti-Schreibmaschine, mit der er seine Fotos an
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