Nichts als Erlösung
geschwiegen. Und nach 20 Jahren beschließt er, das Haus zu verkaufen, will sich endlich von der Vergangenheit lösen, reinen Tisch machen, nach vorn blicken, weil er Vater wird, und muss deshalb sterben. War es so? Ja. Nein. Das Ziehen in Judiths Magen wird stärker. Das Gefühl, dass der Täter schon zu viel Vorsprung hat, dass sie ihn nicht mehr einholen können. Sie wählt Lea Wenzels Nummer, erreicht nur eine Stimme, die etwas auf Griechisch herunterrattert. Kein Empfang, vielleicht ist es das. Oder ist auch Lea in Gefahr, weil sie viel mehr weiß, als sie sagt? Doch wenn es so ist, habe ich das nicht gespürt, denkt Judith. Und der Täter ist hier.
***
Der lügt, hatte Rufus Feger zum Abschied behauptet, unmissverständlich und sehr überzeugend. René Zobel starrt auf den Bildschirm, der ihm wie immer am Morgen ein bedrohlich leeres Dokument zeigt, das es bis zur Deadline mit Text zu füllen gilt. Der lügt. Der lügt. Miriams Freund Felix Schmiedel, sein Interviewpartner für den Aufmacher von gestern, ein Lügner. Natürlich hat er Feger sofort gefragt, wie er das meine und ob es Beweise dafür gebe. Doch der Alte hat seine Anschuldigung nur stur wiederholt und ihm zugezwinkert, und dann hat ihn Fegers Hausdrache mit Todesverachtung im Blick hinauskomplimentiert. Der lügt. René Zobel springt auf und wühlt in den Ablagekörben auf seinem Sideboard Fegers alte Artikel zum Todeshaus hervor. Auch Feger hatte Schmiedel damals interviewt, und Schmiedel hatte was von großer Liebe gefaselt und davon, dass er sich nie verzeihen würde, dass er am Gardasee war, als das unfassbare Verbrechen geschah, und dass er hoffe, Miriam sei noch am Leben. Doch von heimlicher Liebe und bösen Eltern hatte Schmiedel vor 20 Jahren keinen Pieps verlauten lassen, jedenfalls ist in Fegers Artikelserie nichts davon zu lesen. Ist das die Lüge, die der alte KURIER-Reporter meint? Sein Instinkt sagt ihm nein.
Mit Schmiedel stimmt etwas nicht, das ist ihm ja während des Interviews selbst aufgefallen, aber er hatte es eilig, es war kurz vor Redaktionsschluss, und er brauchte ein Aufmacherzitat, und das hatte Schmiedel ihm schließlich gegeben. René Zobel schiebt Fegers Artikelserie von damals beiseite und ruft auf dem Monitor Schmiedels Foto auf. Ein smarter Typ mit leicht angegrauten Schläfen und flaschengrünen Augen. Ein Frauentyp. Dreieinhalb Jahre nach jenem verhängnisvollen 15. Juli 1986 hatte er Roswitha geheiratet, eine mollige Rothaarige mit Mopsbäckchen und leichtem Überbiss. Sie stammte ebenfalls aus Hürth und war mit Miriam in einer Klasse und angeblich ihre beste Freundin gewesen, doch was die Optik angeht, spielte sie eindeutig in einer anderen Liga als Felix Schmiedel und die bildhübsche Vollenweider-Tochter. Warum also hatte Schmiedel Roswitha geheiratet? Die ganz große Liebe war das wohl eher nicht, denn seit 2001 ist er von seiner Roswitha geschieden und lebt in Düsseldorf mit einer deutlich jüngeren und attraktiveren Freundin in einem schicken Loft. Was ihm ja durchaus zu gönnen ist, aber man kann sich schon fragen, warum erst seit fünf Jahren? Ohne den Blick von Schmiedels Konterfei zu wenden, ruft Zobel sich die Interviewsituation in Erinnerung. Schmiedel war höflich gewesen, keine Frage. Doch da war so ein Flackern in seinen Augen, als Zobel sich und den Grund seines Besuchs vorstellte und erklärte, dass Schmiedels Exfrau ihm freundlicherweise Schmiedels Adresse genannt hatte. Es war ein fast mikroskopisches Flackern, eigentlich kaum zu sehen, und sofort hatte Schmiedel sich wieder im Griff. Aber die Nennung seiner Exfrau machte ihn offenbar nervös, und das ist interessant. Natürlich kann das lediglich die Reaktion auf eine eher unerfreuliche Scheidung gewesen sein, doch vielleicht verbirgt sich dahinter noch etwas anderes, irgendein Abgrund, der ein neues Licht auf den Todeshaus-Fall werfen kann.
René Zobel kramt ein Snickers aus der Schreibtischschublade, eigentlich seine Ration für den Nachmittag, doch ohne Ausnahmen taugt die beste Regel nichts, und kreative Höchstleistungen kann nur erbringen, wer sich bei Laune und Kräften hält, denn die Muse ist launisch, das weiß er aus Erfahrung. Er mampft sein Snickers und führt sich Exgattin Roswitha vor Augen, die in Hürth noch immer in dem Bungalow lebt, den sie – vermutlich mit einer großzügigen Finanzspritze von Mum und Dad – kurz nach ihrer Hochzeit gemeinsam mit Schmiedel bezogen hat. Warum hat der schmucke Felix die gute Roswitha
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