Nichts als Erlösung
geheiratet und ist mit ihr auch noch in ein Spießerhaus gezogen, gleich um die Ecke von dem Haus, in dem vermutlich seine Jugendliebe ums Leben kam, wenn er doch eigentlich viel lieber mit einer Rasselady in einem Düsseldorfer Loft leben möchte? Und was ist mit Roswitha? Hatte sie keinerlei Skrupel, sich den Freund ihrer angeblich besten Freundin zu schnappen, die so tragisch ums Leben gekommen oder zumindest verschollen war? Eifersucht, war vielleicht Eifersucht im Spiel, eine Ménage à trois mit bösen Folgen? Man soll ja nie nie sagen, aber so wie er Roswitha Schmiedel erlebt hat, ist das nur schwer vorstellbar, und noch abwegiger erscheint es, dass sie jemanden ermorden würde. Sie ist eher der mütterliche Typ mit einem großen, weichen Busen, an den sich alle flüchten, um sich auszuweinen, wenn sie allein nicht mehr weiterkommen.
Zobel schiebt den Rest des Snickers in den Mund, knüllt die Verpackung zu einem Bällchen und wirft es in einem präzise berechneten Bogen in den Papierkorb. Bestimmt hat sich auch der smarte Felix an Roswithas Busen ausgeweint, vielleicht weiß sie Dinge, die er selbst lieber vergessen und vor anderen nie und nimmer zugeben würde, vielleicht war er deshalb so nervös. Denn er war nervös, jetzt, aus der Distanz betrachtet, ist das völlig eindeutig. Beinahe ängstlich hat Schmiedel reagiert, als ob er nicht sicher sei, was Roswitha ausgeplaudert hätte. Als ob er es durchaus für möglich hielte, dass sie ihm einen Reporter auf den Leib hetzt, um ihn fertigzumachen. Zobel greift zu seinem iPhone und hört sich noch mal die Aufnahme dieses Interviews an. Die erste große Liebe. Wir haben uns sehr geliebt, wirklich sehr geliebt, wir waren sehr verliebt, sie war schön, wunderschön, so klug, so lebendig, so wunderbar. Nur ihr Vater war leider unglaublich streng. Wir mussten uns heimlich lieben, aber das war natürlich auch romantisch.
Zobel stoppt die Aufnahme. Sie kommt ihm plötzlich hohl vor, fleischlos. Nicht wie eine echte Erinnerung, sondern wie eine Lüge. Weniger ist mehr, hat ein ehemaliger Dozent von ihm gern gesagt. Etwas wirkt keinesfalls überzeugender, wenn man es gebetsmühlenartig wiederholt. Genauso wenig hilfreich ist es, Texte unnötig aufzublähen, indem man den Mangel an Substanz mit Adjektiven und Adverbien und sinnlosen Füllwörtern verbrämt. Denn die Leser riechen sofort, wenn mit einer Story etwas nicht stimmt, auch wenn sie in der Regel nicht fähig sind, zu benennen, was sie daran stört und warum sie nicht weiterlesen.
Rufus Feger hatte also recht. Schmiedel hat ihn angelogen, zumindest hat er nicht die ganze Wahrheit gesagt, sondern ihn mit Klischees abgespeist. Doch das wird Schmiedel wohl kaum zugeben, und ihn aus der Reserve zu locken dürfte in einem zweiten Interview noch schwerer sein als im ersten, zumal die Begründung dafür – Zweifel am Wahrheitsgehalt des ersten Interviews – Schmiedels Redseligkeit nicht gerade fördern dürfte. Doch zum Glück gibt es ja noch Roswitha, die verlassene Gattin. Wäre schon interessant, was die zu berichten weiß.
Ein leises Pling des Outlook-Programms gemahnt ihn daran, dass nun erst mal die erste Themenkonferenz des Tages ansteht. Irgendwas ist auch bei der Polizei im Busch, Reiermann hat vorhin so etwas angedeutet, ließ sich aber noch nichts Konkretes entlocken. Und dann sind da auch noch die Zuschriften ehemaliger Heimkinder, um die er sich kümmern muss und für die er eine Platzierung im Blatt braucht, und er muss einen weiteren Versuch starten, Rufus Feger davon zu überzeugen, ihm seine Unterlagen von früher zu zeigen oder noch besser gleich auszuhändigen. Er hat nicht bestritten, dass solche Unterlagen existieren, das ist ja schon mal was. Mitschriften, Fotos, wer weiß, welche Schätze in Fegers Villa schlummern. Heimkinder. Polizei. Roswitha. Feger. René Zobel notiert sich sein Tagesprogramm und sprintet Richtung Chefredaktion. Vielleicht wird der alte Fuchs ja redseliger, wenn er ihm einen Beweis dafür bringt, dass Schmiedel tatsächlich lügt. Und vielleicht wird sogar René Zobel himself den Ermittlungen in Sachen Todeshaus schon sehr bald eine spektakuläre Wendung bescheren.
***
Er hat nicht gewusst, dass Mücken auch tagsüber stechen. Es scheint sogar so, als würden die Biester in der Mittagshitze, die sich immer unerbittlicher über die Niederungen dieses hessischen Urwalds senkt, extra aggressiv. Winzige Viecher nur, und sie haben die Macht, eine ganze Polizeimannschaft zu
Weitere Kostenlose Bücher