Nichts als Erlösung
und den anderen Geburtstagsgästen, die nach der Party hier im Hotel übernachtet haben, ist am Frühstücksbuffet noch nichts zu sehen, und ihre Eltern sind zum Schlafen in die eigene Wohnung gefahren. Aber Manni sitzt bereits an einem Tisch auf der Terrasse, schaufelt Rührei in sich hinein und wirkt frisch und munter wie das blühende Leben, und der Himmel über ihm ist hochsommerblau. Judith holt sich ein Croissant, Milchkaffee und Orangensaft und sinkt auf den Korbsessel ihm gegenüber. Er mustert sie.
»Coole Joggingstrecke da unten am Main.«
»Du warst schon laufen?«
»Der frühe Vogel fängt den Wurm.« Er grinst und spießt ein Stück Bacon auf seine Gabel.
Sie beißt in ihr Croissant, zwingt sich zu schlucken, spült mit einem großen Schluck Milchkaffee nach. »Das war wohl ein Märchen, dass man ohne Reue saufen kann, wenn man nicht mehr raucht.«
»Ich war gar nicht joggen, wenn dich das beruhigt.« Manni grinst noch breiter.
»Mistkerl.« Sie merkt, dass das Aspirin zu wirken beginnt, aber das Gefühl von Kälte hält an. Ein Ziehen irgendwo tief in ihrem Inneren, die Gewissheit, auf etwas zuzusteuern, immer schneller, ohne Umkehrmöglichkeit. Lea, denkt sie völlig unvermittelt. Ich muss sie anrufen und fragen, wie es ihr geht. Vielleicht ist ihr ja doch noch etwas eingefallen, das uns weiterhilft.
Manni lehnt sich zurück und wedelt mit seiner Brötchenhälfte in Richtung Restaurant. »Ziemlich großzügig, dein alter Herr, mir hier eine Nacht zu spendieren. War mir gar nicht klar, dass du aus der Upperclass stammst.«
»Das hier ist nicht mein Leben. Und meine Mutter stammt aus ziemlich ärmlichen Verhältnissen.«
Manni zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts, sondern beißt in sein Brötchen.
Scham ist das, was sie schon immer an ihrer Mutter spürte und doch nie benennen konnte, auf einmal wird Judith das klar. Ihre Mutter schämt sich für ihre Herkunft, schämt sich, dass ihr erster Mann, von dem sie sich Rettung erhoffte, sie mitsamt ihrer kleinen Tochter einfach sitzenließ, um die Welt zu verbessern. Deshalb ist sie immer so verkrampft und auf der Hut. Weil sie sich minderwertig fühlt, auch nach jahrzehntelanger, glücklicher Ehe mit ihrem zweiten Mann, dem weltgewandten und erfolgreichen Bankmanager Wolfgang Krieger. Und sie schämt sich für ihre wilde, rebellische Tochter, die das alles nie würdigte, sondern peinlich fand, die gegen alles Bürgerliche rebellierte und alle Angebote Wolfgang Kriegers, ihr in eine Karriere als Wirtschaftsjuristin zu helfen, zurückwies, weil sie sich lieber mit Verbrechern und Toten abgibt. Judith wird plötzlich sehr heiß, dann wieder kalt. Ist es auch Scham, was sie an Kurt Böhm zu spüren glaubt? Schämt er sich, weil er ein Heimkind war, ein Nichts, nur eine Nummer, obwohl er heute, zumindest was die Rahmenbedingungen angeht, ein glückliches und erfolgreiches Leben führt? Und wenn er sich schämt, was bedeutet das dann?
Ihr Handy meldet den Eingang einer Nachricht, die Kollegen in Köln haben das Foto, das Schneider in ihrem Postfach gefunden hat, gesimst, ein Foto, das nicht zu den Waldfotos der Vortage passt, sondern ganz eindeutig die Lichtung zeigt, auf der die Vollenweiders begraben worden sind. Sie dreht das Display so, dass auch Manni es sehen kann. Er knüllt seine Serviette zusammen, runzelt die Stirn.
»Erst schickt er dir Bildrätsel und dann die Auflösung. Genauso war es mit dem Haus der Vollenweiders auch«, sagt er langsam.
»Die Reihenfolge stimmt aber nicht. Wir haben die Stelle zu den ersten beiden Waldfotos noch nicht gefunden.«
»Woher weiß er das eigentlich?«, fragt Manni, ohne den Blick von dem Foto zu wenden. »Er hat diese Lichtung fotografiert, bevor wir dort rumbuddelten, so viel ist klar. Aber woher weiß er, dass wir das letzte Nacht getan haben? Das ist doch erst ein paar Stunden her und war noch nicht in der Presse.«
Der Täter beobachtet sie. Er ist nah, viel zu nah. Unwillkürlich dreht Judith sich um, sieht aber an den Nachbartischen nur harmlos aussehende Frühstücksgäste.
»Ruf Schneider an und frag ihn, wo der Brief aufgegeben worden ist«, sagt Manni. »Wo und wann.«
»Du hast recht, ja.« Sie wählt, hört das Freizeichen, wartet. Der Täter ist ein Perfektionist. Er will die Kontrolle. Aber sie haben seinen Plan nicht verstanden, haben den nicht befolgt, das kann ihm nicht gefallen. Der Täter wollte, dass sein Opfer das Gesicht verliert, hat Manni bei der Obduktion Jonas
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