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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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gefunden, und dann gehen wir weg von hier, hat sie mir zum Abschied versprochen.
    Und dann war sie weg, genauso schnell und überraschend, wie sie an diesem Sommertag gekommen war. Und ich wartete, wartete. Hütete ihr Foto, versteckte es gut hinter der Bodenleiste. Nur wenn die Sehnsucht zu groß wurde, verbarg ich es unter meiner Matratze, damit ich es betrachten konnte, wenn alle schliefen.
    Irgendjemand muss mich verraten haben. Es gab ja keine Privatsphäre in einem Schlafraum mit 20 Jungen.
    Schritte, die sich nähern. Plock-zsch. Plock-zsch. Ihre Hand, die diesmal nicht die Decke wegreißt, sondern zielstrebig unter die Matratze fährt. Mein Bild nimmt, mein Heiligtum. Weg damit, du Nichtsnutz. Das brauchst du nicht mehr.
    Ich weiß nicht, wie lange sie mich in den Keller sperrten. Ich schrie und schrie. Ich wollte mich nicht besinnen. Ich wollte mein Bild.
    Tag und Nacht, Stunden und Tage – die Zeit wurde außer Kraft gesetzt, verlor sich in Entsetzen. Manchmal muss ich eingeschlafen sein. Manchmal ging das Licht an, und durch die Klappe in der Tür schob man mir etwas Brot und Wasser zu. Und dann steht er plötzlich dort draußen, hält mein Bild in der einen Hand und ein Feuerzeug in der anderen. Grinst mich an.
    Flammen, die an meinem Heiligtum lecken, in ihr Gesicht kriechen und es zerstören. Schreie, meine Schreie, unmenschlich hoch. Dieser irrsinnige Schmerz, als mein Kopf an die Tür schlägt, sie durchbrechen will, durchdringen, retten, was nicht mehr zu retten ist. Schwarze Ascheflocken, die zu Boden rieseln.
    Damit du es ein für alle Male kapierst, hat er gesagt und die Asche mit seinem Stiefelabsatz verrieben. Dass sich schreien nicht lohnt.

Samstag, 8. August
    Ihr ist schlecht, und hinter ihren Schläfen pocht der Schmerz bei jedem Geräusch und bei jeder Bewegung. Judith stellt den Handy-Weckalarm aus, taumelt an dem gigantischen Hoteldoppelbett vorbei ins Bad und stellt sich unter die Dusche. Den ganzen Abend hatte sie sich mit dem Alkohol zurückgehalten, doch sobald Manni da war, haben sie sich in kürzester Zeit betrunken und dabei immer aberwitzigere Tat-Szenarien diskutiert. Sie schaltet die Dusche aus, trocknet sich ab und löst zwei Aspirin im Zahnputzbecher auf, vermeidet es dabei, sich näher im Spiegel zu betrachten. Ihre Cargohose von gestern ist verdreckt, einer der Sneakers außerdem noch feucht, sie kann es nicht ändern, immerhin hat sie in Köln noch frische Wäsche und ein sauberes T-Shirt eingesteckt. Sie trinkt das Aspirin-Gebräu und kippt zwei Gläser Leitungswasser hinterher, bevor sie sich einigermaßen in der Lage fühlt zu telefonieren.
    »Wir haben außer Böhm noch immer niemanden gefunden, der einen Bezug zu Darmstadt hat«, sagt Ralf Meuser, nachdem sie ihn auf den Stand gebracht hat. »Aber die Namensliste vom Jugendamt hat Lücken, das wird immer deutlicher.«
    »Lücken? Was für Lücken?« Judith stopft die silbernen Sandalen und das Kleid in den Rucksack, in ihrem Kopf wüten tausend Nadeln, sobald sie sich bückt, und ihr Magen scheint das Aspirin nicht zu vertragen.
    »Die Heimjungen wurden offenbar nicht mit Namen, sondern mit Nummern angeredet«, sagt Meuser. »Einer der Ehemaligen, den wir vernommen haben, schwört, dass er die Nummer 448 war, es sind aber nur 392 Namen auf der Liste.«
    »Scheiße.«
    »Ja, so kann man das sagen.« Meuser lacht missvergnügt. »Warte mal, Judith, Schneider kommt eben rein mit so einem Brief.«
    Kinder, die nicht einmal Namen haben dürfen, und ein weiteres Foto, das der Täter ihr schickt. Was hat das zu bedeuten, jetzt, nachdem sie die Leichen von Hans und Johanna Vollenweider gefunden haben? Etwas in ihr zieht sich zusammen. Der Täter wird weiter morden, er ist noch nicht fertig, und sie können das nicht verhindern, weil sie etwas essenziell Wichtiges nicht verstehen.
    »Ich wollte dir gerade einen Bericht ins Fach legen, da seh ich den Umschlag«, sagt Schneider ins Telefon.
    »Was ist diesmal drin?«
    »Weiß ich noch nicht. Ich melde mich wieder, wenn die Spurensicherung durch ist.«
    »Die sollen das Foto scannen und mir aufs Handy schicken. Und per Mail an die hessischen Kollegen. Wir brauchen hier dringend mehr Anhaltspunkte, um dieses Waldstück von den letzten Fotos zu finden.«
    »Ich denke, das habt ihr schon.«
    »Nein, leider nicht. Meuser kann dir das erklären.«
    Sie verabschiedet sich, schultert ihren Rucksack und nimmt den Aufzug ins Dachgeschoss. Es ist kurz nach sieben Uhr, von ihren Brüdern

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