Nichts als Erlösung
Meusers Stimme, die Leitung ist tot, Kunstlicht flackert auf und reflektiert Judiths Gesicht in den Fensterscheiben, grünlich mit doppelten Konturen. Sie denkt an die Lehren der Johanna Haarer und an Hitlers Begeisterung dafür. Sie fragt sich, ob diese Lehren den Krieg und den Nationalsozialismus vielleicht überdauerten, weil ein Volk, das in einer Mischung aus Schock, Scham und ungeheuerlicher Schuld erstarrt war, einfach nicht fähig war, sich davon zu lösen. Sie versucht sich vorzustellen, wie es in den 60er-Jahren in Deutschland wohl war, zur Zeit ihrer Geburt, bevor die ersten Studenten und mit ihnen ihr Vater die Starre und Enge eines Weltbilds, das auf Gleichtritt und Gehorsam setzte, nicht mehr aushielten und dagegen rebellierten. Denn um Konformität ging es Johanna Haarer letztendlich. Ihr Menschenbild ließ keinen Raum für Individualität, persönliche Eigenarten und Vorlieben. Wer sich nicht fügte, galt als verwahrlost oder debil oder asozial, den durfte man wegsperren und umformen, und in den Kinderheimen war dazu jedes Mittel erlaubt: Prügel, Hunger, Zwangsarbeit, Isolation. Folter könnte man das auch nennen. In jedem Fall aber Missbrauch und Misshandlung Schutzbefohlener.
Judith bestellt sich noch einen Kaffee. Hat Ralf Meuser recht, geht es um Politik? Doch der Täter schickt ihr keine Forderungen oder Pamphlete, sondern Fotos von seinen Tatorten. Der Täter nimmt Rache, Rache für das, was ihm angetan wurde, ihm ganz persönlich. Was ist persönlich, was ist politisch, wie soll man das trennen? Wer trägt die Schuld, wenn ein ganzes Gesellschaftssystem auf Gewalt und Unterdrückung basiert? Sie denkt an die Eiscreme im Kinderheim Frohsinn, denkt, dass es vielleicht manchmal gar nicht allzu großer Brutalität bedarf, um Menschen zu zerstören, dass manchmal die kleinen Alltäglichkeiten die verheerenden sind, weil sie von innen heraus zermürben. Eiscreme als Knastwährung. Eiscreme als Lohn für die Spitzel und Denunzianten. Wenn Verzweiflung und Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung nur groß genug sind, kann das perfekt funktionieren, um zu beherrschen und zu manipulieren. Und doch gibt es immer auch den freien Willen. Menschen entscheiden sich für oder gegen etwas, sind sogar bereit, dafür mit ihrem Leben zu bezahlen. Und manche Menschen zerbrechen früher als andere, weil sie weniger ertragen, so ist das eben, so war das schon immer.
»In den 70er-Jahren änderte sich die Pädagogik dann allmählich, das Prügeln wurde verboten, neue Erzieher wurden eingestellt, die alten entlassen«, sagt Ralf Meuser^ als die Telefonverbindung wieder zustande kommt. »Jedenfalls für die nachfolgenden Generationen der Heimkinder wurde es also besser.«
»Aber die Vollenweiders blieben bis 1981.«
»Bis das Heim Frohsinn geschlossen wurde, ja. Dann schickte man sie in Frühpension. Vermutlich sogar mit einem goldenen Handschlag, jedenfalls mussten die keinen Kredit aufnehmen, um ihr Haus zu bezahlen.«
Das Haus. Das Haus. Immer wieder das Haus. Ralf Meuser will sie dort nicht hinfahren, nicht ohne vorher Millstatt zu fragen zumindest, lässt sich dann aber doch überreden. Mein Team, denkt Judith, als sie am Kölner Hauptbahnhof zu ihm ins Auto steigt. Manni und Meuser. Meine Kollegen.
Sie reden nicht viel auf der Fahrt nach Hürth, aber es ist ein gutes Schweigen, wie ein Atemholen. Das Atemholen vor einem Tauchgang, denkt Judith. Wir sind längst nicht auf dem Grund, sehen ihn vielleicht noch nicht einmal. Sie überlegt, ob sie Manni anrufen soll, fragen, wie es geht, lässt es dann aber, denn er hat versprochen, sich zu melden. Sie blättert in den Vernehmungsprotokollen, die Meuser für sie kopiert hat. Geschichten, die sich wiederholen. Geschichten von Männern, die nicht sprechen wollen, sich nicht erinnern an ihre Kindheit im Kinderheim Frohsinn, es dann doch tun, unwillig und verstockt. Anklagend, aggressiv oder resignierend. Um uns hat sich doch nie jemand geschert, sagt einer. Ich warte bis heute auf eine Entschuldigung von den Verantwortlichen. Sie klappt die Berichte zu, blinzelt in die Sonne, die schon wieder zu sinken beginnt und den Himmel verfärbt. Hürth in Gelbgold, es hilft aber nicht, das Haus der Vollenweiders wirkt trotzdem kein bisschen einladend, eher im Gegenteil, denkt sie, als sie an der Thujahecke vorbeiläuft. Abweisend wirkt es. In sich verkapselt. Wie eine Festung.
Sie streifen Fußüberzieher und Handschuhe über, dann öffnet Ralf Meuser die Haustür, und sie
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