Nichts als Erlösung
treten ins Dunkel. Etwas ist verändert, denkt Judith. Minimal, fast nicht wahrnehmbar. Etwas ist in der Luft. Die Luft sei manchmal anders gewesen, hat die Nachbarin ausgesagt, plötzlich fällt ihr das wieder ein. Als ob das Haus atmen würde, sei ihr das vorgekommen.
Ralf Meuser zieht die Tür hinter ihnen ins Schloss. Judith schließt die Augen, glaubt einen Nachhall des Entsetzens zu spüren, Entsetzen und Hass. Ralf Meuser drückt auf den Lichtschalter, ein leises Klicken, orangerot explodiert es hinter ihren Lidern. Sie öffnet die Augen wieder und sieht sich um. Die Möbel, die Rollos, der Staub, die Rollos, die blinden Fenster, alles ist genau so, wie sie es in Erinnerung hat.
Sie geht weiter, nach oben, am Schlafzimmer vorbei, bis in Miriams Dachkammer, wo sich die Hitze des Tages gestaut hat und ihr den Schweiß aus den Poren treibt. Etwas ist hier, muss hier einfach sein. Wieder sieht sie sich um. Das Bett, das Regal, der Schreibtisch, der Stuhl, auf dem auch der Täter gesessen haben muss, alles wie beim letzten Mal. Warum hat der Täter hier gesessen? Um das Foto des Kinderheims Frohsinn zu betrachten oder um Miriam nahe zu sein? Oder hat er etwas in ihrem Schreibtisch gesucht?
Er war hier, war noch einmal hier, vor kurzem erst. Sein Geruch liegt noch in der Luft, begreift sie auf einmal, ein Geruch, den sie schon einmal irgendwo wahrgenommen hat. Aber sie weiß nicht mehr, wo, und selbst wenn ihr das einfiele, wäre das noch kein Beweis. Sie kann ja nicht einmal beschreiben, was sie eigentlich riecht.
***
Sekt, Pralinen, Blumen oder nur eine Ausgabe des KURIER? Blumen dürften Roswitha Schmiedels Herz am weitesten öffnen und in unmittelbarer Folge auch ihre Lippen, hat er entschieden. Er drückt auf die Klingel ihres Bungalows, verbirgt das quietschrosarote Bouquet, das er just vor Ladenschluss noch ergattert hat, hinter seinem Rücken. Von drinnen ertönt ein melodischer Dreiklang. Witwenschütteln, er ist gut darin, sehr gut sogar, das gehört zu seinem Job, aber genau genommen hasst er es bis heute, schockstarren, trauernden Angehörigen direkt nach einer Katastrophe auf die Pelle zu rücken, um ihnen Fotos und O-Töne zu entlocken. Das hier ist jedoch etwas anderes. Falls Roswitha Schmiedel wegen des Verlusts ihrer Freundin Miriam überhaupt sehr gelitten hat, dürften die Wunden nun doch längst verheilt sein, auch ihre Scheidung liegt schon Jahre zurück. Er hört Schritte hinter der Tür, strafft seine Schultern und setzt ein gewinnendes Lächeln auf. Sein Atem riecht nach Pfefferminz, sein Hals nach Aftershave, seine Schuhe sind geputzt. Showtime. Er ist bis ins letzte Detail perfekt vorbereitet, an ihm liegt es nicht, wenn das hier jetzt nichts wird.
Die Tür schwingt auf, und Roswitha Schmiedel steht vor ihm, eingehüllt in ein weißes Wallegewand, unter dem orangefarbene Pluderhosen hervorlugen, eine violette Sonnenbrille baumelt in ihrer Linken.
»Sie schon wieder?«
René Zobel lächelt noch breiter und hält ihr mit Schwung das Bouquet vor die Nase.
»Ich wollte mich für Ihre Hilfe bedanken. Den Artikel habe ich Ihnen natürlich auch mitgebracht.«
Sie wird tatsächlich ein bisschen rot und fängt an zu strahlen, was ihrem Mopsgesicht einen ungeahnten Charme verleiht.
»Aber das ist doch wirklich nicht nötig, das ist ja ganz reizend …«
Er muss gar nicht fragen, sie besteht darauf, dass er hereinkommt, und führt ihn auf ihre Terrasse, unentwegt plappernd. Gerade habe sie sich Schnittchen zurechtgemacht und ein Fläschchen Sekt geöffnet, man gönnt sich ja sonst nichts, und was für ein herrliches Wetter und dazu Samstagabend, vielleicht kommt später noch eine Freundin vorbei, das sehen wir dann, und jetzt hole ich rasch noch ein Glas für Sie und die Schnittchen und stelle die schönen Blumen in eine Vase …
René Zobel lässt sich in einen der bequemen Korbsessel plumpsen. Sekt, warum nicht. Seine Berichte für morgen sind fertig, die Chefredaktion frisst ihm derzeit sowieso aus der Hand, und selbst Rufus Feger hat sich erweichen lassen und sein Privatarchiv für ihn geöffnet, was allerdings weitaus weniger erhellend war, als er sich das erhofft hatte. Am spannendsten waren noch ein paar Uraltfotos von dem Kinderheim. Ernst blickende Jungs im Sonntagsstaat auf dem Weg zur Kirche, im Pyjama neben ihren Betten im Schlafsaal, strammstehend, barfuß im Garten beim Unkrautjäten, vor dem Haus gemeinsam mit den Heimleitern posierend. Er muss sich diese Ausbeute noch mal
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